ED 04/12 Eine Welt ohne Öl (S.30-31)

Riskante Strahlen

Unser Leben mit der Radioaktivität

Die Ära der Kernenergie wurde in Deutschland beendet. Können wir uns nun zurücklehnen und das Thema „Radioaktivität“ aus unserem Alltag streichen? Nein, denn die Radioaktivität gehört zu unserem alltäglichen Leben.
Von Stefan Hodam

(8. Dezember 2017) Natürliche Radioaktivität existiert in Gesteinen sowie Böden und auch der kosmischen Strahlung sind wir durch den bloßen Aufenthalt auf unserem Planeten ausgesetzt. Weiterhin gibt es Prozesse, die die Eigenschaften der Radioaktivität ausnutzen, um beispielsweise Lebensmittel zu sterilisieren, Werkstoffe zu prüfen und Messgeräte zu kalibrieren. Aber vor allem die Anwendungen in der Medizin, die durch bildgebende Verfahren wie Röntgen und Computertomographie den Ärzten Diagnosen ermöglichen und im Bereich der Strahlentherapie helfen, Krankheiten zu bekämpfen, sind für uns allgegenwärtig.

2138 Dr. rer.nat Stefan Hodam

Dr. rer.nat Stefan Hodam studierte in Leipzig Geophysik und arbeitete vor seinem Ruhestand im Bereich der Hydrogeologie, dem Umweltschutz und als Sachverständiger für Strahlenschutz beim TÜV Nord.

Natürliche Radioaktivität

Alle Stoffe sind aus Elementen beziehungsweise deren Verbindungen aufgebaut, die aus Atomen bestehen. Der Aufbau des Atoms durch Kern und Elektronenhülle bestimmt die Eigenschaften des jeweiligen Elements. Positiv geladene Teilchen (Protonen) und elektrisch neutrale Teilchen (Neutronen) bilden den Atomkern, um den sich elektrisch negative Elektronen bewegen. Der Kern eines elementspezifischen Atoms kann bei gleicher Protonenzahl aber eine unterschiedliche Anzahl an Neutronen aufweisen. Somit kann ein Element mehrere unterschiedliche Atomkerne besitzen, die die chemischen Eigenschaften aber nicht verändern. Diese Kernvariationen sind Isotope des jeweiligen Elements. Es existieren für die Elemente insgesamt 2.500 Isotope. Davon sind 2.251 instabil und können spontan zerfallen – sie sind radioaktiv.

Beim Zerfall bis hin zu einem stabilen Endzustand werden entweder Teile eines Atomkerns (Alphastrahlung), Elektronen beziehungsweise Positronen (Betastrahlung) oder energiereiche Strahlung (Gammastrahlung) abgegeben. Die Zerfallsdauer kann je nach Isotop von Sekundenbruchteilen bis zu mehreren Millionen Jahren betragen. Diese stete Abgabe von Teilchen oder Energie führt in Wechselwirkung mit anderen Elementen zu neuen Verbindungen. So konnten aus wenigen „Uratomen“ komplexe Materieformen bis hin zum Leben entstehen. Die natürlich vorhandene Radioaktivität ist deshalb fester und notwendiger Bestandteil im sich ständig verändernden Universum, in dem unser Leben auch unter der Einwirkung natürlich bestehender radioaktiver Prozesse entstanden ist.

2138 Grafik Strahlungen Atomkern

Künstliche Radioaktivität

Nach der Entdeckung der Radioaktivität begannen die Wissenschaftler, diese natürlichen Prozesse nachzuvollziehen, bauten Beschleuniger und Reaktoren, um mit den darin erzeugten Neutronen und Protonen Atomkerne von Elementen zu „beschießen“. Durch die dabei erzeugten Veränderungen von Atomkernen werden diese instabil und somit radioaktiv. Dabei können zusätzlich Protonen- und Neutronenstrahlungen entstehen. Dieser Prozess wird als Aktivierung bezeichnet und erzeugt künstliche Radioaktivität. So lassen sich gezielt Strahlungen erzeugen, die aufgrund ihres Energiegehaltes bestimmte Eigenschaften aufweisen und in unserem Alltag Anwendung finden. Die wohl bekanntesten Anwendungen finden wir in der Medizin bei den bildgebenden diagnostischen Verfahren (Röntgen, Computertomographie), sowie bei der Behandlung von Tumoren. Aber auch zur Herstellung von Werkstoffeigenschaften und zur Beeinflussung der Haltbarkeit von Lebensmitteln werden künstlich erzeugte Strahlungen eingesetzt.

Es gibt keine radioaktive Strahlung

Mit Absicht wurde bisher nur von Strahlung gesprochen, um den in der Umgangssprache anzutreffenden Begriff der „radioaktiven Strahlung“ zu vermeiden. Die Radioaktivität ist eine Eigenschaft der Elemente beziehungsweise von deren Isotopen. Beim radioaktiven Zerfall werden entweder Teile eines Atomkerns, Elektronen oder Energie als Strahlung abgegeben. Das führt lediglich zu einem Transport, den wir Strahlung nennen. Diese Strahlung ist nicht mehr radioaktiv, denn diese Eigenschaft besitzt nur das Isotop selbst. Die Strahlung hat aber eine andere Eigenschaft. Wird Materie von Teilchen oder sehr hohen Energien dieser Strahlung getroffen, kann dies darin zu Veränderungen führen.

Die elektrische Ladung der durch die Strahlung getroffenen Atome kann sich beispielsweise durch das „Herausschießen“ von Elektronen oder auch durch das Einfangen von Elektronen verändern – die Atome werden ionisiert. Dadurch ändern sich chemische Bindungen und Materialeigenschaften. Es ist also richtig, bei der von radioaktiven Isotopen ausgehenden Strahlung von „ionisierender Strahlung“ zu sprechen. Dies verdeutlicht gleichzeitig die Wirkung dieser Strahlung, die sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf Materialien und Organe haben kann.

Auswirkungen

Radioaktive Stoffe können durch äußere Strahlung auf unseren Körper wirken, oder durch innere Strahlung im Körper selbst nach Aufnahme von in den Lebensmitteln und der Atemluft natürlich enthaltenen Isotopen, die auf organische Zellen wirken. Von der ionisierenden Strahlung getroffene Zellkerne können sich verändern, absterben oder Defekte im Erbgut erfahren. Die Zellen haben jedoch einen „Reparaturmechanismus“, der sich bei der Entwicklung des Lebens unter den Bildungsszenarien unseres Universums auch unter Einfluss von Radioaktivität entwickelt hat. So können Schäden behoben werden, wenn sie ein individuell bestimmtes Maß nicht überschreiten.

Etwas Unsichtbares messen

Ionisierende Strahlung ist nicht sichtbar. Um aber Grenzen zu erkennen und Schädigungen abzuwenden, muss man sie messen und Grenzwerte festlegen. Der Begriff des „Geigerzählers“ ist bekannt. Dessen Grundtechnologie findet sich in einer Vielzahl von Messgeräten, die die auftreffenden Teilchen oder Energieimpulse der Strahlung messen. So wird jeder radioaktive Zerfall in einer Zeiteinheit (Zerfall je Sekunde = Becquerel(Bq)) gezählt. Die Zerfallsrate ist ein Maß der Aktivität eines radioaktiven Isotops, deren elementspezifische Intensität Einfluss auf die Wirkung der ionisierenden Strahlung auf unseren Körper hat.

Wo ist die Grenze

Zum Schutz von Mensch und Umwelt vor radioaktiven Stoffen und ionisierender Strahlung wurden in der Strahlenschutzverordnung Maßnahmen festgelegt. So werden für jedes Isotop Aktivitätsgrenzen für bestimmte Anwendungsbereiche festgelegt. Für Nuklidgemische kann daraus über eine Summenformel ein Freigabewert/Freigrenze für die Aktivität berechnet werden. Unterhalb dieser Werte werden keine Schäden für unseren Körper angenommen.

Die Wirkung der Aktivität auf unseren Körper wird mit dem Begriff „Dosis“ definiert, die mit Messgeräten (Dosimetern) als Aktivitätsäquivalent gemessen wird. Die Strahlenschutzverordnung legt fest, dass für die allgemeine Bevölkerung die Dosis durch den Einfluss aus Kernkraftwerken und in anderen technischen Anlagen erzeugter ionisierender Strahlung auf 1 Millisievert (mSv) im Jahr zu begrenzen ist. Das gilt sowohl für die direkte Ableitung in die Umgebung als auch für die Beseitigung radioaktiver Abfälle, die jetzt und in Zukunft auch beim Rückbau der stillgelegten Kernkraftwerke anfallen.

2138 Grafik Dosis Strahlung Radioaktivität

Schutz vor zusätzlicher Strahlung

Die Festlegung dieses Dosisgrenzwertes soll vor Wirkungen zusätzlicher ionisierender Strahlung schützen. Zusätzlich bedeutet, dass wir bereits einer durchschnittlichen Dosis von circa 4 mSv im Kalenderjahr ausgesetzt sind. Diese entsteht im Mittel zur Hälfte aus der Wirkung der natürlichen Radioaktivität in der kosmischen Strahlung, der terrestrischen Strahlung durch Gesteine sowie Erden und dem Einatmen des in der Luft enthaltenen Radons sowie der Aufnahme von natürlichen Isotopen in der Nahrung. Die andere Hälfte dieser Dosis entsteht bei medizinischen Anwendungen. Die Grafik oben zeigt, in welchem Maße wir innerer und äußerer Strahlung ausgesetzt sind und dass Flugreisen sowie medizinische Behandlungen unsere Dosisaufnahme im Vergleich zur schon vorhandenen Belastung deutlich erhöhen können, aber auch, dass Raucher ihre Lunge einer starken Alphastrahlung durch das giftige Isotop Polonium aussetzen.

Eigene Erkenntnisse gewinnen

Es wäre doch interessant, weitere Hinweise zur Radioaktivität und zu ionisierender Strahlung in der eigenen Umgebung zu gewinnen, egal ob in Ihrer Nähe ein Kernkraftwerk steht oder nicht. Geben die Baumaterialien in der Wohnung, das Straßenpflaster, die Umgebungsluft, Nahrungsmittel oder auch benachbarte Industrieanlagen Strahlung ab? Mit im Handel erhältlichen Strahlungsmessgeräten kann man auf Entdeckungstour gehen. Die Werte werden nicht allzu hoch sein und je nach Gerät im Rahmen der Messgenauigkeit liegen.

Aber es sind sicher interessante Vergleiche möglich, die einen Eindruck in unser radioaktives Umfeld vermitteln. Da die hohen Preise dieser Geräte aber dem bloßen Wissensdurst gegenüberstehen, stellt der Bund der Energieverbraucher seinen Mitgliedern zwei „Gamma-Scout“ Messgeräte zur Ausleihe zur Verfügung (Details siehe Verleih Messgerät für Radioaktivität).

Riskante Strahlen

Im Dezember 2007 machte eine Studie im Auftrag des Bundesamts für Strahlenschutz Schlagzeilen.

Riskante Strahlen

Im Dezember 2007 machte eine Studie im Auftrag des Bundesamts für Strahlenschutz Schlagzeilen: Kinder erkranken in der Nähe von Atomkraftwerken nachweislich häufiger an Blutkrebs und Tumoren.

(23. März 2008) - Forscher unter der Leitung der Mainzer Epidemiologin Maria Blettner hatten die Daten des Deutschen Kinderkrebsregisters analysiert und dabei festgestellt, dass zwischen 1980 und 2003 im Umkreis von fünf Kilometern um die Reaktoren 77 Kinder an Krebs erkrankt waren. 37 davon hatten Leukämie. Im statistischen Durchschnitt wären nur 48 Krebsfälle (17 Leukämiefälle) zu erwarten gewesen, schreiben die Forscher im Auftrag des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und dem Bundesamt für Strahlenschutz. Die Analyse umfasste alle 16 Standorte deutscher Atomkraftwerke während eines Zeitraums von 23 Jahren. Experten haben mehrfach betont, dass die Studie methodisch sauber ist.

Verharmloste Ergebnisse?

Dennoch kritisieren Wissenschaftler die Studie und ihre Auswertungsmethoden. Der Bremer Epidemiologe Eberhard Greiser beispielsweise hält die Ergebnisse der Kinderkrebsstudie für deutlich brisanter als zunächst dargestellt. Die Studie zeige nicht nur ein erhöhtes Leukämierisiko für Kinder in einem Umkreis von fünf Kilometern um ein AKW. Auch in weiter entfernten Bereichen sei das Risiko erhöht - und zwar in einem Umkreis von bis zu 50 Kilometern um ein Kernkraftwerk.

Strahlenexperten wie der Mediziner Edmund Lengfelder von der Ludwig-Maximilians-Universität München erinnern daran, dass es ähnliche Studien bereits vor 15 Jahren gegeben habe. Auch damals hätten Statistiker "die Daten so verwässert, dass kein Effekt mehr zu beobachten war". Doch eine genauere Analyse der Daten habe schon damals ergeben, dass sich die Gefahr innerhalb eines Radius von fünf Kilometern erhöhe. Allerdings zog man - vermutlich aus politischen Gründen - den Kreis einfach weiter. Mit dem Ergebnis, dass in einem Radius von 15 Kilometern kein erhöhtes Risiko mehr auftrat. Laut Lengfelder wurde auch nach dem Super-Gau von Tschernobyl kräftig getäuscht und verharmlost.

2138 Strahlenbelastung

29 Kinder erkrankten durch die Nähe eines Atomkraftwerks an Krebs: Die erhöhte Strahlenbelastung bietet keine plausible Erklärung dafür.

Rätselraten um Ursache

Ein weiterer Punkt, der Atomgegner stutzig macht, ist die Tatsache, dass die Forscher um Maria Blettner angeben, dass ihre Analyse keine Rückschlüsse darauf erlaube, warum das Krebsrisiko erhöht ist: "Diese Studie kann keine Aussage darüber machen, durch welche biologischen Risikofaktoren diese Beziehung zu erklären ist." Radioaktive Strahlung schließen sie jedoch als Ursache aus. Die Strahlung sei viel zu gering, um das Krebsrisiko messbar zu erhöhen. Experten schätzen, dass eine Person, die maximal fünf Kilometer von einem Atommeiler entfernt wohnt, durch Strahlung aus der Luft mit 0,3 bis 0,002 Mikrosievert belastet wird. Zum Vergleich: Die jährliche natürliche Strahlenexposition in Deutschland beträgt im Mittel etwa 1.400 Mikrosievert.

Fragwürdige Grenzwerte

Zwar gibt es Grenzwerte, die die Bevölkerung vor Gesundheitsrisiken durch radioaktive Strahlen schützen sollen. In der Diskussion um die Ergebnisse der Kinderkrebsstudie haben Wissenschaftler und Politiker immer wieder betont, dass von Atommeilern gar keine Gefahr ausgehen könne, weil die Kraftwerke entsprechende Grenzwerte stets eingehalten hätten. Diese Werte - je 0,3 Millisievert für Abwasser und Abgase - beruhen jedoch nicht auf medizinischen Daten, die beweisen, dass diese Strahlung für den Menschen ungefährlich ist. Vielmehr stammen sie von mehr oder weniger willkürlichen Berechnungen aus den 50er-Jahren. Seither haben die zuständigen Gremien die Werte zwar mehrfach modifiziert. Dennoch bezweifeln Strahlenbiologen, dass die Einhaltung dieser Grenzwerte einen wirksamen Schutz vor einer Krebserkrankung bieten, denn für ionisierende Strahlen gibt es keine Dosis-Wirkungs-Beziehung.

Bundesumweltminister Sigmar Gabriel hat das Gutachten zur Prüfung an die Strahlenschutzkommission des Bundes überwiesen. Diese Auswertung wird vermutlich noch einige Monate auf sich warten lassen.

letzte Änderung: 08.12.2017