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Das Klimasystem könnte sich unwiederbringlich erwärmt haben, lange bevor die fossilen Ressourcen aufgebraucht sind.

Vorwärts in eine nachhaltige Gesellschaft

Das Klimasystem könnte sich unwiederbringlich erwärmt haben, lange bevor die fossilen Ressourcen aufgebraucht sind. Die Ressourcenverknappung kann uns also nicht vor dem Klimawandel retten.
Die Transformation hin zu einer klimaverträglich wirtschaftenden Gesellschaft ist moralisch ebenso geboten wie einst die Abschaffung der Sklaverei und noch immer die Ächtung der Kinderarbeit.

(02. Dezember 2011, geändert 02. Januar 2012) Unser auf der Nutzung fossiler Rohstoffe basierendes Wirtschaftsmodell ist ein unhaltbarer Zustand: Es gefährdet die Stabilität des Klimas und damit die Existenzgrundlagen künftiger Generationen. Das ist die zentrale Botschaft des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, WBGU. Die Kernaussage lautet: Wir müssen unsere Gesellschaft verändern – und zwar sofort, zum Beispiel mit einem Gesellschaftsvertrag.

Leitplanken gegen gefährlichen Klimawandel

Im Dezember 2010 wurde während des Weltklimagipfels im mexikanischen Cancún das 2°C-Ziel verbindlich von 194 Nationen beschlossen. Dieses Ziel, das gewissermaßen eine Leitplanke des Klimaschutzes darstellt, definiert eine Art Schadensgrenze, innerhalb derer spezifische Risiken des Klimawandels für Gesellschaft und Natur abgeschätzt werden können. Die Überschreitung dieser Grenze könnte drastische Konsequenzen für das Klimasystem haben und zu unkalkulierbaren Risiken für die menschliche Zivilisation führen.

2712 Kippelemente – Achillesfersen im Erdsystem

Kippelemente im Erdsystem. (Quelle: Lenton, T., Held, H., Kriegler, E., Hall, J., Lucht, W., Rahmstorf S. and Schellnhuber, H. J. (2008) Tipping elements in the Earth's climate system. PNAS 105, 1786)

Zudem können bei einer Überschreitung der 2°C-Leitplanke wichtige Prozesse im Klimasystem über kritische Grenzen hinaus belastet, die Kippelemente im Erdsystem aktiviert und in einen neuen Zustand versetzt werden. Zu den Kippelementen gehören unter anderem der Grönländische Eisschild, der Amazonas Regenwald, der indische Sommermonsun und das El-Niño-Klimaphänomen.

Allein das geschmolzene Eis des Grönländischen Eisschildes ließe den Meeresspiegel um sieben Meter weltweit ansteigen. Ganze Landstriche würden im Meer versinken und so in einigen küstennahen Regionen zur Zerstörung wertvoller Ackerflächen und somit der Lebensgrundlage vieler Menschen führen.

CO2-Emissionen drosseln

In einem entscheidenden Punkt stimmen alle Klimawissenschaftler miteinander überein: Der Anstieg der Welttemperatur steht in direktem Zusammenhang mit Anstieg der anthropogenen Treibhausgase in unserer Atmosphäre, die durch die Nutzung fossiler Rohstoffe entstanden sind.

Der einzige Weg, die globale Erwärmung auf ein erträgliches Maß zu beschränken, besteht darin, die menschlichen CO2-Emissionen zu begrenzen. Nehmen die globalen Emisionen weiterhin so zu wie in den vergangenen Jahren, lässt sich dieses Ziel nur noch erreichen, indem wir spätestens ab 2020 die CO2-Emissionen jedes Jahr verringern, bis wir schließlich auf dem Niveau von 1950 angelangt sind. Dabei drängt die Zeit, denn innerhalb der nächsten zehn Jahre muss die Trendwende der Treibhausgasemissionen erreicht werden. Andernfalls lässt sich die 2-Grad-Leitplanke nicht mehr einhalten.

Kippt das Klima 2030?

Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder gelingt die Absenkung der weltweiten CO2-Emissionen und die Stabilisierung der CO2-Konzentration in unserer Atmosphäre auf 420 ppm (parts per million), also auf das 2°C-Leitplanken-Niveau - oder es gibt weltweit gravierende und nicht umkehrbare Klimaänderungen. Einen Zwischenweg – ein „bisschen“ mehr Erwärmung – schließen die Wissenschaftler aus: Überschreitet man das 2°C-Ziel, würde sich das Klima mit gravierenden Konsequenzen unwiederbringlich verändern. Wir müssen also heute aus Einsicht und auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis handeln.

2712 Prof. Hans Joachim Schellnhuber

Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) ist ein neunköpfiges Gutachtergremium, das die Bundesregierung zu globalen Umweltfragen berät. Vorsitzender des WBGU ist Professor Hans Joachim Schellnhuber, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Professor für theoretische Physik an der Universität Potsdam, External Professor am Santa Fe Institute, sowie Mitglied des Weltklimarats IPCC. Zu den weiteren Mitgliedern zählt Professor Claus Leggewie, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen. Er hat gerade ein Buch verfasst: „Mut statt Wut“ (Edition -Körber Stiftung, 14 Euro).

Dabei reicht es nicht aus, auf die drohende Verknappung der fossilen Energieträger zu warten – nach dem Motto, wenn Öl-, Gas- und Kohlevorräte aufgebraucht sind, rettet sich das Weltklima von ganz allein. Denn wenn wir alle bekannten und geschätzten Reserven und Ressourcen fossiler Energieträger nutzen, werden bei ihrer Verbrennung 100-mal mehr CO2-Emissionen freigesetzt, als wir uns bis 2050 leisten könnten, wenn wir die globale Erwärmung begrenzen wollen.

Pioniere des Wandels

„Je mehr kleinskalige Maßnahmen greifen und je mehr Pioniere des Wandels aktiv werden, sich vernetzen und beginnen, Veränderungen auf unterschiedlichen Ebenen im Sinne der Transformation anzustoßen, desto eher werden Entscheidungsträger ermutigt, auch vermeintlich unpopuläre, große Weichenstellungen anzupacken. In einem derart dynamischen gesellschaftlichen Umfeld können Maßnahmen, die heute noch als unrealistisch gelten, morgen durchaus umsetzbar sein.“
in: Schellnhuber, H. J. et al. (2011). Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. WBGU-Hauptgutachten, WBGU, Berlin

Das aktuelle Hauptgutachten des WBGU „Welt im Wandel - Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“, erhältlich kostenlos als Download oder als gedruckte Fassung über www.wbgu.de anfordern.

Der Wandel ist möglich

Professor Schellnhuber zählt sieben Kardinal-Innovationen auf, die den Wandel ermöglichen können:

  • Integration erneuerbarer Energiequellen (“Supersmart Grids”)
  • Plus-Energie-Gebäude (Einfamilien-Kraftwerk“)
  • Modulare Elektromobilität („Jenseits der Speicherung“)
  • Systemoptimierte Industrieproduktion („Cradle to cradle“)
  • Holistische Raumplanung (“Neuerfindung von Urbanität und Ruralität”)
  • Nachhaltiges Biomasse-Management („De- und Antikarbonisierung“)
  • Regeneratives Wasserdargebot („Solare Entsalzung“)

Und er ermutigt seine Zuhörer bei seinen Vorträgen und betont immer wieder: „Time is on your side – die Zeit spiel für Euch“ und verweist etwa auf die Lernkurven erneuerbarer Energien. Danach wird regenerative Stromerzeugung bald schon deutlich günstiger sein als der Betrieb fossiler Kraftwerke.

2712 Diagramm State-of-the-Art Wissenschaft

Konventionelle Sichtweise: Zustand geringster Kosten stellt sich ein. (Quelle: Schellnhuber, H. J. et al. (2011). Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. WBGU-Hauptgutachten, WBGU, Berlin)

Die „Große Transformation“

Schellnhuber initiierte eine Symposiumsreihe mit Nobelpreisträgern A Nobel Cause – Symposium Series on Global Sustainability, deren Veranstaltungen bereits in Potsdam, London und Stockholm stattfanden. Im Jahr 2007 lud er unter der Schirmherrschaft der Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel, erstmals Nobelpreisträger und andere Spitzenforscher nach Potsdam ein, um Grundfragen der Nachhaltigkeit zu diskutieren. Alle Teilnehmer waren sich in Folgendem einig: „Wir stehen an einem geschichtlichen Wendepunkt, wo der Bedrohung unseres Planeten nur mit einer Großen Transformation begegnet werden kann. Diese Transformation muss jetzt beginnen; sie wird von allen Teilnehmern des Nobelpreisträger-Symposiums befürwortet und unterstützt.“.
Der WBGU hat diese Thematik aufgegriffen und in einem 2011 erschienenen Hauptgutachten eingehend untersucht. Die Studie beschäftigt sich mit der Frage, wie die notwendige große Transformation in Gang gebracht werden kann und welche Akteurskonstellationen für ihr Gelingen erforderlich sind. Aus Sicht des WBGU können diese weitreichenden Veränderungen nur auf Basis eines neuen Gesellschaftsvertrags erfolgen. Dieser verbindet den gestaltenden Staat mit mehr Bürgerbeteiligung. Er erlegt den Bürgerinnen und Bürgern mehr ökologische und soziale Verantwortung auf, schafft aber zugleich mehr und neue Möglichkeiten zur Mitgestaltung, Mitwirkung und Mitentscheidung.

Die Gesellschaft transformiert mit

Eine Transformationsstrategie kann unmöglich auf Zwang setzen und von oben nach unten erfolgen. Sie ist – wie es unser Bild vom neuen Gesellschaftsvertrag beinhaltet – auf die Überzeugung, Mitwirkung und Ausgestaltung von uns allen als Konsumenten, Mietern und Staatsbürgern angewiesen.

Ein zentrales Aktionsfeld einer Transformation zur Nachhaltigkeit sind die Energiesysteme. Schon vor der Atomkatastrophe von Fukushima hatte der WBGU belegt, dass Deutschland seine Energieversorgung bis 2050 auf regenerative Energien umstellen kann. Deutschland sollte die vollständige Dekarbonisierung seiner Energiesysteme bis 2050 verbindlich erreichen.

In seinem Gutachten empfiehlt der WBGU, dieses Ziel auf verschiedenen Ebenen zu verfolgen: verfassungsrechtlich durch eine Statuierung des Staatsziels Klimaschutz, materiell-rechtlich durch ein Klimaschutzgesetz, prozedural durch mehr Informations- und Beteiligungsrechte sowie Rechtsschutz für Bürger und Nichtregierungsorganisationen und institutionell durch ein Klima-Mainstreaming der Staatsorganisation.

Kurzfristige Kosten

Die klassische Wirtschaftswissenschaft postuliert, dass ein optimales Energieversorgungssystem die geringsten Kosten aufweist. Dieses Optimum stellt sich jedoch nicht automatisch ein, da unter anderem viele sogenannte externe Effekte, wie Treibhausgasemissionen nicht oder nur unzureichend berücksichtigt werden. Dieser Tatbestand wird in Grafik 3 veranschaulicht. Danach liegen die gesamtgesellschaftlichen Kosten für eine CO2-freie Energieversorgung zwar niedriger, doch erreicht man ein solches System nur, wenn man vorübergehend höhere Kosten in Kauf genommen werden. Es ist die Aufgabe der Politik, kurzfristige Blockaden zu überwinden, um eine Große Transformation zur Nachhaltigkeit zu ermöglichen.

2712 Diagramm Kipppunkte im sozioökonomischen System

Erst durch eine Transformation kann der günstigste Zustand erreicht werden. (Quelle: Schellnhuber, H. J. et al. (2011). Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. WBGU-Hauptgutachten, WBGU, Berlin)

Viele Technologien für die Große Transformation sind bereits vorhanden und ihr Einsatz ist finanzierbar. Mit Hilfe der begünstigenden Faktoren, zum Beispiel Einpreisung von Externalitäten (nicht in Rechnung gestellten Umweltschäden) sowie Forschung und Entwicklung, kann der Berg, der Veränderungen erschwert abgeflacht werden und den Weg für die Transformation erleichtern.

Auf der anderen Seite gibt es Hürden, die den Berg zusätzlich erhöhen, etwa Subventionen für fossile Energien in Höhe über 400 Milliarden Euro jährlich, wie die Internationale Energie-Agentur gerade in einem Bericht feststellte. Auch bürokratische Vorschriften erschweren den Weg. Doch sind die entscheidenden Hürden einmal genommen, ist eine große Eigendynamik in Richtung Nachhaltigkeit zu erwarten.

letzte Änderung: 14.02.2020