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Langer Atem zahlt sich aus Die EWE-Story

Langer Atem zahlt sich aus

Im Durchschnitt 417 Euro muss der Oldenburger Energieversorger EWE pro Gaskunden zurückzahlen. Insgesamt sind das 250 Millionen Euro für 600.000 Kunden – ein Erfolg, der in der deutschen Wirtschaftsgeschichte (noch) seinesgleichen sucht. Dabei sah es vor Gericht zunächst schlecht aus für die Protestkunden. Sechs Jahre später zahlt sich die Hartnäckigkeit jedoch aus.
Von Wolfgang Witte

(1. Juni 2011) Nun ist es amtlich: Die EWE macht alle Gaspreiserhöhungen seit 2007 rückgängig und erstattet auf Verlangen die zu viel bezahlten Beträge zurück. Damit aber nicht genug: Auch die Kunden, die passiv bleiben, gehen nicht leer aus. Schon im vergangenen Jahr hatte die EWE beschlossen, knapp 40 Prozent der Preiserhöhungen seit 2007 rückgängig zu machen und automatisch mit der Jahresrechnung 2010 zu verrechnen.

Das allein kostet den Versorger 100 Millionen Euro und ist ein Grund dafür, dass die EWE das vergangene Jahr erstmals in ihrer Geschichte mit einem Verlust abschloss. Zum Verlust trägt mit weiteren 80 Millionen bei, dass die EWE erst im Dezember 2010 die Gaspreise an ihre gestiegenen Bezugskosten angepasst hat. Auch diese Summe ist den Kunden zu Gute gekommen. In der deutschen Wirtschaftsgeschichte haben Verbraucherproteste bislang keinen ähnlichen Erfolg gezeitigt. „Stuttgart 21" ist zum Inbegriff für das Aufbegehren der Bürger geworden. Die „EWE-Gaspreisproteste" wären ein zweites Beispiel dafür.

Protest gegen Preiserhöhungen

Im Handstreich konnte dieser Sieg nicht errungen werden. Der Druck auf das Unternehmen musste sechs Jahre lang immer stärker werden, bevor es sich auf seine Kunden zu bewegte. Aus vielen kleinen Quellen wurde erst langsam ein übermächtiger Strom.

Der Protest begann 2004. Die regelmäßigen Gaspreiserhöhungen zehrten am Einkommen der Bürger. Immer mehr Verbraucher stellten sich die Frage: Müssen die Gewinne der Energieversorger so hoch sein, während bei uns das verfügbare Einkommen schrumpft? Angeregt und unterstützt vom Bund der Energieverbraucher begannen die ersten Kunden damit, die Preiserhöhungen nicht zu zahlen. Sie forderten statttdessen die EWE dazu auf, nachzuweisen, dass die Preiserhöhungen gerechtfertigt sind und das Unternehmen daraus keine übermäßigen Gewinne erzielt. Die EWE reagierte darauf mit Mahnschreiben und der Drohung, den Gashahn zuzudrehen. Zusätzlich verärgerte das Unternehmen die Protestkunden dadurch, dass sie kritische Anfragen zur Höhe des Gaspreises in gutsherrlichem Ton beantwortete.

Die Zahlungsverweigerer begannen, sich in Initiativen zu organisieren. Immer mehr Verbraucher schlossen sich an. Ohne den langen Atem dieser Initiativen, die sich auf den Bund der Energieverbraucher stützen konnten, wäre die EWE nicht bezwungen worden. Viele derjenigen, die 2004 mit dem Protest begannen, zahlen noch heute zwei bis drei Cent pro Kilowattstunde Gas. Zahlungsklagen der EWE gingen sämtlich verloren, wurden zurückgezogen oder liegen noch chancenlos in der Revision beim Bundesgerichtshof.

Artikel bringt Stein ins Rollen

Das Geheimnis des Erfolgs der Oldenburger liegt auch in der Beteiligung der „Ostfriesischen Nachrichten" (ON), einer Tageszeitung mit 13.000 Exemplaren Auflage in Aurich. Im Jahr 2005 forderte Jochen Stüve, ein ehemaliger ON-Mitarbeiter, Zahlungsverweigerer und Mitglied beim Bund der Energieverbraucher, seine ehemaligen Kollegen dazu auf, über das Thema zu berichten. Obwohl der Unmut über die ständig steigenden Preiserhöhungen 2005 schon hochgekocht war, war die Zeitung erst einmal nicht am Thema interessiert. Musste der Gaspreis nicht steigen, wenn der Ölpreis anzog? Zudem gehörte die EWE zu den preiswertesten Versorgern. Doch Stüve ließ nicht locker, bis die Zeitung einen Beitrag über seinen individuellen Gaspreisprotest und die Vorschläge des Bundes der Energieverbraucher veröffentlichte.

1700 2339 Rechtsanwalt Dr. Jan Reshöft

Der Anwalt: Dr. Jan Reshöft

Daraufhin meldete sich das Auricher Rechtsanwaltsbüro Berghaus und Kollegen bei der Zeitung und riet dazu, nicht nur die Zahlung zu verweigern und abzuwarten, sondern selbst aktiv zu werden: Vor Gericht könne man den Versorger dazu zwingen, die Billigkeit seiner Preise nachzuweisen. Diese Einmischung der Kanzlei und insbesondere von Rechtsanwalt Dr. Jan Reshöft legte das Fundament für den Erfolg.

Schon nach wenigen Wochen zählte Reshöft über 100 Kunden, die bereit waren, gerichtlich gegen ihren Gasversorger vorzugehen. Er legte 2005 sowohl beim Landgericht Aurich als auch beim Landgericht Oldenburg Klage ein. Reshöft entschied sich bewusst für diese Aufsplittung, um nicht vom Urteil eines Gerichtes abhängig zu sein. Zu den Organisatoren der Sammelklage gehörte auch ein Oberstaatsanwalt.

Entmutigende Niederlagen

Der Prozessverlauf im ersten Jahr war alles andere als ermutigend. Viele Einzelkläger hatten darauf verzichtet, sich der Sammelklage aus Aurich anzuschließen. Die Amtsgerichte urteilten regelmäßig: Die Preise der EWE sind billig, die Kunden müssen zahlen. Das Auricher Landgericht erklärte sich für nicht zuständig und verwies das Verfahren an die Kammer für Handelssachen nach Hannover. Und das Oldenburger Landgericht gab der EWE Recht. Außerdem verwandelte der Bundesgerichtshof das scharfe Schwert der Billigkeitsprüfung in ein stumpfes: Er entschied, ein Unternehmen müsse nicht mehr seine gesamte Kalkulation offen legen. Es sei lediglich notwendig, darzulegen, wie die Kostensteigerungen der Vorlieferanten auf die Endverbraucherpreise durchschlagen.

Hinzu kam, dass sich auch die kommunalen Anteilseigner, also die Kommunalpolitiker, auf die Seite des Unternehmens schlugen, denn die EWE gehört zu 74 Prozent den Kommunen im Ems-Elbe Raum und zu 26 Prozent EnBW. Allerdings verweigerten viele Kommunen selbst die Zahlung der Preiserhöhungen an EWE.

Eine Frage der AGB

Doch es gab auch juristische Lichtblicke. Schon vor dem Oldenburger Landgericht hatte sich gezeigt, dass es auf die Billigkeitsprüfung gar nicht ankommt. Die EWE hatte nämlich schon Schwierigkeiten nachzuweisen, dass sie überhaupt Recht besaß, ihren Gaspreis zu erhöhen. Das Verfahren hatte sich in ein Verfahren über allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) verwandelt.

Das Oberlandesgericht Oldenburg zerstreute schließlich den Verdacht, die Richter machten gemeinsame Sache mit der EWE: Das Gericht erklärte, EWE-Kunden seien grundsätzlich Sonderkunden. Die fraglichen Preisanpassungsklauseln des Unternehmens seien samt und sonders ungültig, weil sie niemand verstehe: Sie verstießen gegen das Transparenzgebot des Bürgerlichen Gesetzbuches.

Der Bundesgerichtshof bestätigte dieses Urteil im Sommer 2010 zum Teil. Er entschied: Ab 2007 hatte die EWE kein Preisanpassungsrecht; die neue Preisanpassungsklausel benachteilige den Kunden. Vor 2007 jedoch habe sich EWE buchstabengetreu an die gesetzlichen Vorschriften gehalten und die AVBGasV (Allgemeinen Versorgungsbedingungen für die Gasversorgung) wortwörtlich übernommen. Das sei richtig gewesen, auch wenn die Formulierungen der AVBGasV kein Kunde verstehen könne. Nebenbei bemerkt, ist der BGH von seiner eigenen Rechtsprechung nicht mehr wirklich überzeugt. Er hat in einem anderen Verfahren das getan, was er im EWE-Verfahren noch unterließ und hat die Frage dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt.

EWE verweigert Rückzahlung

Nachdem die EWE zumindest teilweise in Karlsruhe verloren hatte, erwarteten die Kunden, dass der Oldenburger Versorger nun die Preiserhöhungen ab 2007 umgehend zurückzahlt. Doch der Versorger sagte, dazu verpflichte ihn das Karlsruher Urteil nicht und deshalb werde er es auch nicht tun. Wer sein Geld zurück haben wolle, müsse das Unternehmen verklagen. Das komme auf jeden Fall billiger, als von selber zu zahlen – immerhin erstreckte sich der Gaspreisprotest längst nicht auf das gesamte Versorgungsgebiet, sondern „nur" auf den Raum Emsland, Oldenburg und Ostfriesland.

1700 2339 Auricher Amtsrichter David Pappenheim

Der Auricher Amtsrichter David Pappenheim versucht der Klagen Herr zu werden, rechts im Bild die Liste der zu verhandelnden Klagen.

Nach erheblichem öffentlichen Protest beauftragte die EWE jedoch den früheren Bremer Bürgermeister Dr. Hennig Scherf mit der Ausarbeitung eines sogenannten Vergleichs. Dieser lief darauf hinaus, dass das Unternehmen 40 Prozent der Forderungen an alle Kunden auszahlt, die die EWE nicht verklagen. Schon dieses halbherzige Entgegenkommen war ein enormer Erfolg für die Kunden. Da jedoch das Unternehmen während des Rechtsstreits viel von seinem Ansehen verloren hatte und nicht schlüssig erklären konnte, wie Scherf auf den 40-Prozent-Vergleich gekommen war und die Rechtslage entgegen den Bekundungen der EWE eindeutig war, wuchs die Zahl der Kunden täglich, die die Scherf-Lösung nicht akzeptierten. Stattdessen verklagten sie die EWE vor den Amtsgerichten auf Rückzahlung aller Preiserhöhungen seit 2007.

Alle Amts- und auch Landgerichtsrichter gaben den Klägern recht, so dass die EWE fast täglich in irgendeinem Medium von einer juristischen Niederlage lesen musste. Nach den ersten erfolgreich geführten Klagen, die ab November mit Rückzahlungsurteilen der EWE endeten, baute sich in wenigen Monaten eine Klagewelle auf, die es in Deutschland bisher noch nicht gegeben hatte.

100 Klagen je Termin

Da die EWE in jedem einzelnen Fall auf einer mündlichen Verhandlung bestand, spielten sich in den Amtsgerichten immer ungewöhnlichere Szenen ab. Wurden erst nur zwei oder drei Klagen pro Verhandlung aufgerufen, so waren es einige Wochen später schon 20 oder 30 und schließlich im Auricher Landgericht sogar über 100 pro Verhandlungstermin. Die Ankündigungszettel füllten eine ganze Flurwand und die Gerichtsdiener schoben die Akten mit der Sackkarre in den Gerichtssaal.

1700 2339 Sackkarre zum Transport der EWE-Verfahrensakten

Die Verhandlungen selbst glichen einem absurden Theaterstück, denn der Richter tat nichts anders, als zigmal die immer gleichlautenden Anträge der Parteien vorzulesen und die Anwälte antworteten stereotyp zigmal mit „ja". Einem Kläger, der ohne Anwalt erschienen war, fragte der Richter, warum er denn auf juristischen Beistand verzichte. Der Kläger antwortete: „Ja sagen kann ich auch alleine."

7.000 Klagen gegen EWE

Bis Ende März 2011 summierten sich die Klagen gegen EWE nach Angaben des Unternehmens auf 7.000. Der niedersächsische Justizminister forderte deshalb den Versorger unmissverständlich auf, seine Probleme nicht weiter auf dem Rücken der Justiz auszutragen. Außerdem verlor das Unternehmen Kunden. Bis zum März sollen 45.000 Verbraucher der EWE den Rücken gekehrt haben, wobei dieser Verlust zum Teil auch auf eine Erhöhung des Gaspreises zurückzuführen war. Das Image des Unternehmens löste sich auf. Die eigenen Mitarbeiter begannen, an der Weisheit der Führung zu zweifeln, und die EWE lief (und läuft noch immer) Gefahr, die Konzession für die Strom- und Gasnetze, ihr Kerngeschäft, zu verlieren. Die Kommunen wollen die Netze zukünftig selber betreiben und schwimmen dabei auf der EWE-Antipathiewelle, auf der sie die Risiken einer Netzübernahme gar nicht richtig wahrzunehmen scheinen. Aus all diesen Gründen zahlt die EWE jetzt doch alle Preiserhöhungen seit 2007 zurück. Wer sein Geld zurückhaben will, muss jedoch unterschreiben, dass er auf alle Ansprüche aus der Zeit vor 2007 verzichtet.

Rückzahlung auch ohne Klage

Ohne eine solche Beschränkung ginge das Unternehmen ein neues, schier unkalkulierbares Risiko ein, denn zurzeit prüft der Europäische Gerichtshof die AGB vor 2007. Erklärt er die Preisanpassungsklauseln auch für diese Zeit für ungültig, muss die EWE nicht ab 2007 auf der Basis von 4,11 Cent pro Kilowattstunde, sondern ab 2003 auf der Basis von drei Cent alle Preiserhöhungen zurück zahlen. Das wäre das Ende des Unternehmens.

Nachsatz: Auch die Regionalgas Euskirchen, die Enso Dresden und die Berliner Gasag haben vor dem BGH verloren. Auch sie weigern sich ebenso beharrlich wie die EWE anfänglich, den Kunden Geld zurückzuzahlen. Doch vor Gericht gewinnen die Kunden ihre Rückzahlungsklagen. Man kann nur alle Kunden auch in anderen Regionen ermutigen, zu viel bezahltes Gasentgelt zurückzuklagen.

letzte Änderung: 09.01.2015