ED 04/12 Eine Welt ohne Öl (S.30-31)

Verbraucherorganisation

Geld fällt vom Himmel

Eine nicht alltägliche Aktion will zum Umdenken anregen. Wenn Geld vom Himmel fällt, muss genügend davon da sein, um die Welt umzugestalten.
Von Daniela Tiben und Joachim Ackva

(17. Dezember 2014) Eine ungewöhnliche Aktion gab es im August in Frankfurt: Ein Vermögensberater und eine Künstlerin ließen Geld vom Himmel auf die Passanten herabregnen. 6.000 Euro fielen aus Säcken, die an Luftballons über Frankfurt schwebten. Auch in Berlin ließen Daniela Tiben und Joachim Ackva Geld vom Himmel regnen. Die beiden wollen mit ihrer Aktion zum Umdenken anregen. Denn die globalen Anstrengungen zur Bekämpfung von Armut, Umweltzerstörung und Krieg haben bisher zu wenig gebracht.

Im Jahr 2013 starben laut Unicef-Kindersterblichkeitsbericht 6,3 Millionen Kinder vor ihrem fünften Lebensjahr. Noch immer stirbt folglich alle fünf Sekunden ein Kind, unnötigerweise meinen die beiden. Die Aktion zeigt: Es macht Spaß zu teilen. Die beiden haben beim Geldregen Leute beobachtet, die Geld weitergegeben haben an Leute, die nichts gefangen haben.

1426 Geld im freien Fall

„Der Geldregen symbolisiert auch, dass es mehr Privatvermögen auf dem Planeten gibt als je zuvor“, erläutert Joachim Ackva. „Wir Bürger verfügen damit weltweit über eine enorme Kraft gegen Armut, Krieg und Umweltzerstörung. Schon wenn wir freiwillig ein Tausendstel unseres Vermögens zusammenlegen, ergibt das ein Hundertfaches des regulären UN-Jahresbudgets. Deshalb schlagen wir vor, bei den UN ein Gemeinschaftskonto für freiwillige Einzahlungen einzurichten. Dieses Weltkonto würde den unterfinanzierten globalen Aufgaben mit Finanzkraft, Fachlichkeit und Legitimation begegnen. Drei Kammern - Bürger, Experten und Regierungen - würden über die Mittelverwendung entscheiden. Das wäre eine klare Antwort auf die Krisentrends. „Es gibt unzählige philanthropische Projekte auf der Welt. Wenn es zusätzlich gelingt, eine globale Kooperation zu schaffen, können wir die Welt zu einem Fest machen. Momentan agieren wir zerstreut, als würde man eine Handvoll Sand auf eine Dartscheibe werfen: ineffizient“, so der Manager.

1426 Daniela Tiben und Joachim Ackva

Wollen aus der Welt ein Fest machen: Daniela Tiben und Joachim Ackva

Ackva hat die Organisation „Planet Earth Account“, kurz und sinnig: PEACE ins Leben gerufen (www.planetearthaccount.de). Für 2015 sind weitere Aktionen in deutschen Großstädten geplant, Details lässt sich Joachim Ackva aber noch nicht entlocken.

Auf der Internetseite heißt es: Angenommen, es gäbe bei der UN ein Gemeinschaftsprojekt, in dem sich alle Erdbewohner gegen Armut, Krieg und Umweltzerstörung verbünden können. Würden Sie dort freiwillig jährlich ein Tausendstel Ihres Vermögens einbringen?

Flüssige Demokratie

Kann man Entscheidungen als Bürger auch selbst treffen, statt sie an Profis zu delegieren?

Flüssige Demokratie

Wir ärgern uns über korrupte Abgeordnete und Beamte. Kann man Entscheidungen als Bürger auch selbst treffen, statt sie an Profis zu delegieren? Gerade die Energiewende muss als Volksbewegung demokratisch organisiert sein. Hilft die sogenannte „Liquid Democracy“?

(16. Juni 2013) „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen … ausgeübt“. So steht es im Grundgesetz der Bundesrepublik in Artikel 20. Aber sehr viele Bürger sind unzufrieden mit der Demokratie. Alle vier Jahre zur Wahl gehen erscheint ungenügend. Denn die Volksvertreter sind allzu anfällig für Stimmungen und gutbezahlte Einflüsterungen. Kriegseinsätze im Ausland, Entlastungen für Industrie und Gutverdiener zum Beispiel wären nicht durchsetzbar, wenn die gewählten Volksvertreter auf den Willen ihrer Wähler hören würden.

Volksentscheide wie in der Schweiz sind aufwändig und das Ergebnis hängt stark davon ab, wie die Abstimmungsfrage formuliert wird.

1426 1715 Gemeinsam lässt sich mehr erreichen

Grenzen verflüssigt

Mehr Demokratie wagen, forderte Willy Brandt im Oktober 1969. Eine neue Möglichkeit demokratischer Entscheidung ist die sogenannte „Liquid Democracy“. Liquid meint hier, dass die Grenzen aufgeweicht werden zwischen direkter Demokratie – jede Entscheidung wird vom Volk getroffen – und repräsentativer Demokratie – die Abgeordneten entscheiden zwischen den Wahlen unabhängig vom Wähler.

Stimmdelegation

Das Kernelement von Liquid Democracy ist die „dynamische Delegation“, bei der die Entscheidungen zu Themenbereichen oder auch konkreten Fragen an eine andere Person widerrufbar delegiert wird. Jeder Entscheider kann also entweder selbst entscheiden oder seine Entscheidungsbefugnis an eine andere Person seines Vertrauens delegieren, die dann für ihn entscheidet. Zum Beispiel möchte ich über Steuerpolitik die SPD für mich entscheiden lassen, über Umweltpolitik die Grünen, über Bildungspolitik soll Herr Müller für mich entscheiden, der seinerseits Dr. Meier für sich entscheiden lässt und über den Truppeneinsatz der Bundeswehr in Afrika möchte ich selbst bestimmen. Das Prinzip ist unabhängig vom Internet und kann überall eingesetzt werden,  wo Entscheidungen getroffen werden: In Parteien, Gewerkschaften, Kommunen Betrieben und Organisationen.

Im Kern geht es darum, dass der Einzelne als Entscheider seine Verantwortung behält und nicht über längere Zeit oder pauschalisiert abgeben muss. Das Volk oder die Basis erhält seine Macht zurück. Das ist weder einfach, noch unproblematisch. Aber es entspricht dem Kern unserer Demokratie. Es geht dabei nicht nur um Abstimmung und Delegation, sondern vor allem auch um Argumente und Diskussionen. Liquid Democracy (LD) bezeichnet dabei eine neue Kultur der gemeinschaftlichen Verantwortung und Teilhabe. Sie sollte ausprobiert und gewagt werden. Sie gehört zur Energiewende, die nur als Gemeinschaftsprojekt aller Bürger gelingen kann.

Software

So einfach das Prinzip ist, so vielfältig und unterschiedlich wird es verwirklicht. Liquid Democracy ist zwar auch mit Zettel und Bleistift möglich. Seine Bedeutung erhält es jedoch durch das Internet, wo zu sehr geringen Kosten sehr viele Menschen sich unabhängig von Entfernungen austauschen können.

Es gibt eine Reihe von fertigen und kostenlosen Softwareprogrammen für LD:

Probleme

Wird LD über das Internet organisiert, dann werden Menschen ohne Internetzugang  ausgegrenzt. Ferner muss technisch ausgeschlossen werden, dass Abstimmungen gefälscht oder manipuliert werden. Weiterhin ist es unmöglich, elektronische Abstimmungen gleichzeitig geheim und nachvollziehbar durchzuführen („Wahlcomputer-Dilemma“). Führt man elektronische Abstimmungen geheim durch, dann sind sie nicht nachvollziehbar, das Ergebnis könnte vom Administrator fast beliebig manipuliert werden. Führt man elektronische Abstimmungen nachvollziehbar durch, dann sind sie nicht geheim. Möchte man gleichzeitig nachvollziehbar und geheim abstimmen (wie das bei jeder öffentlichen Wahl der Fall ist), dann geht das nicht elektronisch.

Es gibt aber auch viele grundsätzlichere Probleme. Minderheiten genießen Schutz. Wenn Mehrheitsentscheidungen verbindlich sind, dann geraten die Minderheiten leicht unter die Räder, seien sie nun ethnisch, religiös oder sozial. Es könnte leicht eine Mehrheit dafür geben, das Eigentum der tausend reichsten Personen zu vergesellschaften oder keine Sozialhilfe mehr zu zahlen. Deshalb sind in Deutschland gewisse Grundrechte garantiert (Artikel 1 bis 19 der Verfassung), die in ihrem Wesensgehalt nicht eingeschränkt werden dürfen. Die Väter der Verfassung wollten im Jahr 1948 dem Volk nach der Erfahrung des dritten Reichs mit voller Absicht nicht alle Macht zugestehen. Ansätze von LD lassen sich jedoch auf allen Ebenen erproben, ohne unsere Staatsverfassung gleich grundsätzlich in Frage zu stellen.

In der Praxis zeigt es sich jedoch, dass nur Wenige die Chance einer aktiven Beteiligung überhaupt nutzen, sei es in Parteien, in Firmen oder Kommunen. Diese Aktiven bestimmen dann die Meinungsbildung, sei es bei LD oder auch in anderen Prozessen der Meinungsbildung.

Liquid Democracy in der Praxis
  • Die Piratenpartei zeichnet sich durch eine sehr offene parteiinterne Diskussion aus. Hierbei spielt LD eine große Rolle. Aber auch die SPD Bundestagsfraktion hat einen offenen Online Dialog https://zukunftsdialog.spdfraktion.de/
  • Mehr Demokratie e. V. startete einen offenen internen Dialog
  • Die Linke führt eine offene parteiinterne Diskussion
  • Im Landkreis Friesland gibt es eine offene LD-Plattform für Bürger (Online abstimmen, mitreden, mehr bewegen – mit dieser Plattform lädt der Landkreis Friesland seine Bürgerinnen und Bürger zu einer neuen Form der Online-Beteiligung ein): www.liquid-friesland.de
  • Aber auch in Firmen kann LD eingesetzt werden. Über Erfahrungen berichtet die Firma Synaxon AG
Verbraucherinteressen in der Verhandlungsdemokratie

Prof. Fritz W. Scharpf hielt am 21. Juli 02 auf einer Tagung der vzbv in Berlin einen vielbeachteten Festvortrag.

Verbraucherinteressen in der Verhandlungsdemokratie

Prof. Fritz W. Scharpf hielt am 21. Juli 02 auf einer Tagung der Verbraucherzentrale Bundesverband in Berlin einen vielbeachteten Festvortrag. Hier seine Kernthesen.

Ökonomisch gesehen ist die Befriedigung des Verbraucherinteresses der einzige Zweck der Wirtschaft. Im Markt konkurrieren die Unternehmen miteinander um die Chance, dem Verbraucher dienen zu dürfen. Zugleich sind die Verbraucher politisch gesehen die größte überhaupt mögliche Gruppierung, die alle Wähler aller Parteien und überdies auch noch alle Nichtwähler einschließt - unvergleichlich viel größer als der Bauernverband oder die IG Chemie. Warum also sollte dieses vom Markt befriedigte Interesse überhaupt einer politischen Vertretung bedürfen? Und wenn doch, worin sollten besondere Schwierigkeiten der Vertretung einer alle Wähler einschließenden Interessengruppe begründet sein?

1426 Prof. Fritz W. Scharpf

Prof. Fritz W. Scharpf, Direktor des Instituts für Gesellschaftsforschung Köln

Verbraucherinteressen bedürfen der Organisation

Auf dem Markt steht den Anbietern jedoch nicht die kollektive Marktmacht der vereinigten Verbraucherschaft gegenüber, sondern der einzelne Konsument. Anders als das früher von den Konsumgenossenschaften versucht wurde (oder als es heute im Verhältnis zwischen großen Handelsketten und den einzelnen Bauern praktiziert wird), können die Letztverbraucher ihre Marktmacht nicht gebündelt einsetzen, um den Anbietern ihre Konditionen zu diktieren.

Fundamentale Informationsasymmetrie

In einem sich selbst überlassenen Markt könnten die Anbieter den Wettbewerb untereinander zum Nachteil der Verbraucher beschränken. Schon die Sicherung eines ökonomisch ausgeglichenen Preis-Leistungsverhältnisses ist also auf den Staat angewiesen, der gegen Kartellabsprachen und marktbeherrschende Konzentration vorgehen muss. Aber auch in funktionierenden Märkten wird die Werbung niemals ausreichen, um die fundamentale Informationsasymmetrie zwischen Verbrauchern und Anbietern auszugleichen. Freilich schützt verfügbare generelle Information nicht vor Mängeln im Einzelfall, die sich erst beim Gebrauch zeigen. Hier muss das staatliche Gewährleistungs- und Haftungsrecht dem Verbraucher erst die Möglichkeit verschaffen, seine Interessen wahrzunehmen.

Menschen

Kollektives Handeln ist die notwendige Voraussetzung für die Durchsetzung der Interessen des individuellen Verbrauchers.

Selbstorganisation und Zwangsverbände

Die Verbraucher in ihrer Gesamtheit konstituieren zwar zusammen mit den Anbietern die Marktwirtschaft, aber sie können ihre Interessen nur in begrenztem Maße allein durch individuelles Handeln im Markt verwirklichen. Kollektives Handeln ist also die notwendige Voraussetzung für die Durchsetzung der Interessen des individuellen Verbrauchers.
Im Prinzip gibt es dafür zwei Modelle - die Selbstorganisation in handlungsfähigen Verbänden und den Versuch der Einflussnahme auf das Handeln politischer Zwangsverbände, des Staates also oder der Europäischen Union.

Der erste Weg ist charakteristisch für den Arbeitsmarkt, wo sich Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände kollektiv organisiert haben und jedenfalls bei uns ihre Marktbeziehungen ohne Mitwirkung des Staates durch Tarifverhandlungen und Kollektivverträge regeln. Ähnliches haben die Verbraucher niemals erreicht, und der Vergleich zeigt, wo die Gründe dafür liegen: Die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften hängt ab von ihrem Organisationsgrad, der zwar abnimmt, aber immer noch um mehrere Größenordnungen über dem aller Verbraucherverbände liegt. Wichtiger noch ist die Bereitschaft der Arbeitnehmer, gegebenenfalls für die Ziele ihrer Organisation zu streiken. Vor allem aber sind die Gewerkschaften in der Lage, das Konfliktverhalten ihrer Mitglieder strategisch einzusetzen und dann auch die jeweils erzielten Kompromisse als für alle verbindliches Verhandlungsergebnis zu legitimieren. Bei den Verbraucherorganisationen ist keine dieser Voraussetzungen gegeben. Aber warum ist das so?

"Politische Unternehmer" notwendig

Der amerikanische Ökonom Mancur Olson hat gezeigt, dass die Gründung eines Verbandes den Charakter eines Kollektivguts hat, und dass deshalb unter der üblichen Annahme egoistisch-rationalen Verhaltens gerade große Gruppen nicht in der Lage sind, aus sich selbst heraus eine gemeinsame Vertretung ihrer Interessen aufzubauen. Schon die Entstehung von Verbänden wäre danach auf "politische Unternehmer" angewiesen, die sich davon einen besonderen, über die Teilhabe am Kollektivgut hinausgehenden "Gewinn" versprechen - oder sie bedarf der Förderung und Subventionierung durch den Staat.

Aber die Gründung allein reicht selbstverständlich nicht. Erfolgreiche Interessenverbände brauchen Mitglieder, die bereit sind, den Verbandszweck wenigstens durch einen finanziellen Beitrag und womöglich durch eigene aktive Beteiligung zu unterstützen und gegebenenfalls das eigene Verhalten von den Direktiven des Verbandes bestimmen zu lassen. Das erfordert vielleicht im Einzelfall keinen großen Aufwand, aber ist doch viel verlangt in einer Welt, in der niemand die Zeit und die Mittel hat, sich für alle ihn potentiell interessierenden privaten und öffentlichen Belange einzusetzen. Hier liegen die eigentlichen Ursachen dafür, daß nicht alle gesellschaftlichen Interessen als mitgliedsstarke Verbände organisierbar sind.

Moralische und egoistische Motive

Zur Erläuterung verwende ich zwei Unterscheidungen zwischen möglichen Mitgliedschafts-Motiven, einerseits die zwischen moralischen und egoistischen Motiven, und andererseits die zwischen konzentrierten und diffusen Interessen. Ein Beispiel für die erste Unterscheidung ist der Vergleich zwischen den Mitgliedern von Amnesty International und den Mitgliedern des Bauernverbandes. Den ersten geht es darum, Menschenrechtsverletzungen in der ganzen Welt anzuprangern, den zweiten geht es um die Verbesserung des eigenen Einkommens. Beide sind auf kollektives Handeln angewiesen. Aber während bei Amnesty der Verbandszweck mit der moralischen Motivation des Mitglieds identisch ist und im Prinzip auch individuelle Opfer rechtfertigen kann, ist beim Bauernverband eine Übersetzung notwendig: Bei egoistischer Motivation lohnt die Mitgliedschaft nur dann, wenn das eigene Wohlergehen durch Unterstützung der Verbandsarbeit mehr gefördert wird als durch andere Möglichkeiten der Verwendung von Zeit und Geld. In dieser Unterscheidung gehören die Motive der Verbraucher grundsätzlich zu den egoistischen Interessen. Aber weshalb sind die Verbraucherinteressen dann offenbar doch schwerer zu organisieren als die ebenso egoistischen Interessen der Bauern, der Handwerker, der Metallarbeiter oder der Zahnärzte?

Demonstration

Demonstration als Kundgebung des Verbraucherwillens

Konzentrierte und diffuse Interessen

Zur Erklärung beziehe ich mich auf die zweite Unterscheidung zwischen konzentrierten und diffusen Interessen. Die Konsuminteressen richten sich bei jedem von uns von Zeit zu Zeit auf höchst unterschiedliche Güter und Dienstleistungen. Wenn man gerade ein Haus renoviert, hat man ganz andere Probleme als wenn man eine Trekkingtour im Himalaya oder eine Tagesmutter sucht. Noch größer sind die Diskrepanzen zwischen Konsumentengruppen, die sich nach Einkommen, Bildungsstand, kultureller und ideologischer Orientierung voneinander unterscheiden. Gewiß gibt es auch auf der Konsumseite konzentriertere Interessen. Der ADAC und der Mieterbund profitieren davon. Aber die nicht spezialisierten Verbraucherverbände wollen diffuse Interessen organisieren und sie haben es besonders schwer, ihre potentielle Klientel als zahlende Mitglieder und aktiv Mitwirkende zu gewinnen.

Beamtete Verbraucherpolitik

Das kollektive Verbraucherinteresse kann nur durch eine gemeinwohl-orientierte Politik befriedigt werden. Deshalb gibt es eine Verbraucherpolitik, die in den Ländern, im Bund und in der Europäischen Union von Politikern und Beamten betrieben wird, die mit dieser Aufgabe eine Gemeinwohlverpflichtung des Staates erfüllen. Diese Politik hat den Aufbau der Verbraucherorganisationen gefördert, sie subventioniert die Verbraucherinformation und Verbraucherberatung aus Steuermitteln, und sie schützt Verbraucherinteressen durch eine Vielzahl von Gesetzen und durch Institutionen wie das Bundeskartellamt, die für das Wettbewerbsrecht zuständige Generaldirektion der Europäischen Kommission oder die Europäischen Arzneimittel- und Lebensmittelbehörden.

Politik nur durch Konsens handlungsfähig

Je mehr die Politik auf die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und die Entwicklung der Beschäftigung Rücksicht nehmen muß, desto schwerer fällt es ihr, Forderungen der Verbraucher oder auch der Umweltverbände gegen den Widerstand der Unternehmen, Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften durchzusetzen. Der Staat muss, wenn er nicht überhaupt auf politisches Handeln verzichtet, nach Lösungen suchen, die das politische Ziel mit möglichst geringen schädlichen Nebenwirkungen für Unternehmen und Arbeitsplätze erreichen können. In der Praxis bedeutet dies, dass Gesetze und Verordnungen, die Wirtschaftsinteressen tangieren, in zunehmendem Maße in Verhandlungen mit den betroffenen Unternehmen und ihren Verbänden formuliert werden. Wenn man sich nicht einigt, könnte der Staat zwar immer noch einseitig handeln - andernfalls gäbe es für die Partner ja keinen Grund, sich überhaupt auf Verhandlungen einzulassen. Aber beide Seiten wissen, dass ein solcher Ausgang für die Politik mindestens so unerwünscht wäre wie für die andere Seite. Für die Verbraucherverbände schafft dies erhebliche Probleme, aber vielleicht auch neue Chancen.

Handschlag

Wer Einfluß haben will, muss an Verhandlungen teilnehmen

Verbraucherinteressen im Verhandlungspoker

Die Argumente der Verbraucher treffen nun auf Beamte und Politiker, die in Verhandlungen mit Vertretern der Wirtschaft nach Lösungen suchen, die eben nicht nur für die Politik, sondern auch für die beteiligten Unternehmen und ihre Verbände akzeptabel sein müssen. Solche Verhandlungen lassen sich von außen kaum beeinflussen, weil die jeweiligen Prioritäten und Rückzugslinien, Alternativvorschläge und Kompromissmöglichkeiten erst im Prozess des Verhandelns selbst deutlich werden und weil das Ergebnis überdies in hohem Maße von der Strategie und Taktik der Verhandelnden beeinflusst wird. Wer also überhaupt Einfluß auf das Ergebnis haben will, müsste an den Verhandlungen selbst beteiligt sein. Wo nicht, mag er vorher warnen und hinterher protestieren, aber in der Verhandlungsdemokratie wird dies nur wenig nützen. Wenn die Verbraucherverbände diesen Einflussverlust nicht hinnehmen wollen, müssten sie also selbst zu Verhandlungspartnern von Industrie, Landwirtschaft, Handel und Finanzdienstleistern werden.

Geborgte Verhandlungsmacht

Aber das ist leichter gesagt als getan. Erfolgreich verhandeln kann nur, wer Verhandlungsmacht hat - wer also über etwas verfügt, das die andere Seite haben möchte, oder wer glaubwürdig mit Nachteilen drohen kann, welche die andere Seite vermeiden will. Aus dem zuvor Gesagten scheint aber zu folgen, dass die Verbraucherorganisationen hier nichts zu bieten haben: Die Verbraucherinteressen sind aus sich heraus weder organisationsfähig noch konfliktfähig. Woher könnte dann eine von den Wirtschaftsverbänden zu respektierende Verhandlungsmacht der Verbraucherorganisationen kommen? Verbraucherinteressen brauchen die gemeinwohlorientierte staatliche Politik zur Unterstützung und Subventionierung ihrer Organisationen und diese ist auch der primäre Adressat ihrer Forderungen. Aber ebenso, wie die Politik den Verbraucherinteressen eine künstliche Organisationsfähigkeit verleihen konnte, kann sie auch künstliche Konfliktfähigkeit verleihen. Mit der Ermöglichung der Verbandsklage gegen Rechtsverletzungen bei Einzelfallentscheidungen wurde eben dies erreicht. Im Prinzip spricht jedoch auch nichts gegen die Möglichkeit, die Verbraucherorganisationen auch im Prozess der ausgehandelten Rechtsetzung mit künstlicher

Verhandlungsmacht auszustatten. Moralisch motivierte Verbraucher-Aktivisten

Die Frage ist jedoch, ob die Verbraucherorganisationen nach ihrer inneren Verfassung in der Lage wären, eine solche Chance zu nutzen. Die Konsumenten verfolgen zwar egoistisch-rationale Interessen, die von ausgehandelten Kompromissen profitieren würden. Aber in den Verbraucherorganisationen dominieren nicht die egoistischen Verbraucher, sondern Aktivisten, die in erster Linie moralisch motiviert sind - was sich auch daran zeigt, dass die Verbraucherorganisationen sich in zunehmendem Maße moralische Anliegen von der nachhaltigen Entwicklung bis zu den Interessen der Dritten Welt zu eigen gemacht haben. Für sie, die ihre Freizeit oder ihr berufliches Leben der Sache eines moralisch überhöhten Verbraucherschutzes geweiht haben, könnten allfällige Kompromisse mit Wirtschaftsinteressen inakzeptabel sein. Der faktische Einfluss der Verbraucherorganisationen auf die Politik hängt also von ihrer internen Willensbildung und von der Fähigkeit ihrer Vertreter ab, die Interessen ihrer Klientel als zugleich strategiefähige und kompromissfähige Verhandlungspartner wirksam zu vertreten.

letzte Änderung: 16.05.2018