Gedanken zur Wasserstoffbegeisterung
Wenn eine Forschungsministerin in Talkshows verkündet, dass „Wasserstoff unser neues Öl“ sei oder Wasserstoff-Freunde postulieren, Solarkraftwerke in Afrika könnten unsere Energieprobleme lösen, regt sich Widerstand bei Dr.-Ing. Gerd Eisenbeiß, der Sie im Folgenden an seinen Erinnerungen aus über 40 Jahren Tätigkeit in Ministerien und Forschungsinstituten teilhaben lässt.
Von Dr.-Ing. Gerd Eisenbeiß
(23. August 2021) Für jemanden, der seit seinem Physik-Diplom mit Wasserstoff zu tun hat, ist das Thema „Wasserstoffbegeisterung“ nichts Neues. Das Hype-Thema kommt immer mal wieder auf – und verschwindet wieder, sobald die hinlänglich bekannten Effizienz- und Kostenprobleme erneut untersucht wurden. Dementsprechend hat es mich sehr erfreut, dass in der letzten Energiedepesche ein realistischer Blick auf die heutigen Wasserstoff-Übertreibungen veröffentlicht wurde (Anm. d. Redaktion: Artikel „Wasserstoff: Joker für die Energiewende?“), an den ich hiermit anknüpfen möchte.
Dr.-Ing. Gerd Eisenbeiß ist studierter Physiker, arbeitete zunächst als Wissenschaftler am Kernforschungszentrum Karlsruhe, wechselte 1973 als Referent ins Bundeskanzleramt und später als Referatsleiter in das Bundesforschungsministerium. Von 1990 bis 2001 war er Programmdirektor für Energie- und Verkehrsforschung beim Deutschen Forschungszentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) sowie anschließend Vorstand für Energie- und Materialforschung im Forschungszentrum Jülich. Seit seiner Pensionierung im Jahr 2006 widmet sich Gerd Eisenbeiß vornehmlich der Publizistik. www.politikessays.de
Bedingt durch meine früheren Tätigkeiten komme ich nämlich bei gleicher Faktenlage zu geringfügig anderen Schlüssen, an denen ich Sie gerne teilhaben lassen möchte. Meine Interpretation des Regierungshandelns ist beispielsweise grundsätzlich freundlicher. Ich sehe die politischen Entscheider einen Wettlauf um „Zukunftskompetenzen“ kämpfen – auch vor dem Hintergrund des schon lange begonnenen Bundestagswahlkampfes, den sich die Industrie clever zunutze macht. Insbesondere die „Retter“ des Verbrennungsmotors und des Stahlstandortes Deutschland, die sich zukünftig nicht nur das Eisenerz, sondern auch noch die Energie aus anderen Kontinenten herbeisubventionieren lassen wollen, rennen aktuell offene Türen bei den politischen Entscheidern ein. Gleiches gilt für Vertreter der Energiewirtschaft und insbesondere der Gasnetze. Aber dazu später mehr.
Unglaubliche Faszination
Der faszinierende Gedanke vom „sauberen Wasserstoff“ betört mit jedem Hype aufs Neue Wissenschaftler, Journalisten und Teile der Öffentlichkeit sowie manchen Politiker. Dazu ein schönes Beispiel aus den späten 1980er Jahren: Bei einer Pressekonferenz im Bundesministerium für Forschung und Technologie (BMFT) zum Thema „Solarer Wasserstoff“ fragte mich ein WDR-Journalist, ob ich nicht auch der Meinung sei, dass nur eine finstere Verschwörung der Ölkonzerne bisher verhindert habe, dass man Wasserstoff nicht an jeder Ecke tanken könne. Ich antwortete darauf: „Ach wissen Sie, Wasserstoff ist ein Gas, das ist so leicht, dass wenn es einem zu Kopfe steigt, fängt man an zu schweben“. Ich war damals unter Forschungsminister Heinz Riesenhuber Referatsleiter für Energie-Effizienz sowie erneuerbare Energien und damit auch für Wasserstoff zuständig.
Zyklus der Erkenntnis
Im Zuge dieser Tätigkeit konnte ich viel darüber herausfinden, ob es prinzipielle Probleme auf dem Weg zu solarem Wasserstoff gibt und wo. So sind bereits vor rund 30 Jahren grob 100 Millionen DM Fördermittel sowie weitere 50 Millionen DM von Projektpartnern in die großen Systemprojekte „HYSOLAR“ und „Solarwasserstoff Bayern“ sowie in Grundlagen- und Sicherheitsforschung sowie in die Elektrolyseurentwicklungen geflossen. Die Ergebnisse dieser Forschungen haben sich nicht in Luft aufgelöst – man kann sie auch heute noch nachlesen. In jüngster Zeit tönt es dennoch erneut aus der Politik, „Wasserstoff sei das neue Öl“, er solle „Erdgas in der Breite“ ersetzen oder fast schon philosophisch „Wasserstoff sei das Schlüsselelement für Energiewende und Nachhaltigkeit“. Wenigstens wird heutzutage nicht mehr von einer „Wasserstoff-Gesellschaft“ schwadroniert wie einst von deutschen Forschungsmanagern und Jeremy Rifkin.
Unterschätzter Strom
Erfreulicherweise liest man immer häufiger nüchterne Einordnungen, die Wasserstoff nicht als Allheilmittel, sondern in lediglich bestimmten Fällen als einen sinnvollen Teil einer treibhausgasfreien Stromwirtschaft einordnen. Die gemeinhin stattfindende Unterschätzung des Stroms und die Überschätzung des Wasserstoffs könnten damit zusammenhängen, dass Strom traditionell als Sekundärenergieträger und Gas als Primärenergieträger gilt. In der Welt der Nachhaltigkeit ist es aber umgekehrt: Strom aus Sonne und Wind ist primär und das Gas aus Wasserstoff sekundär, weil Strom nicht unter erheblichen Verlusten aus Gas, sondern Gas unter Verlusten aus Strom produziert wird! Thermodynamisch ist Strom grundsätzlich die höherwertige Energieform, weil Strom reine Arbeitsfähigkeit (Exergie) darstellt, ein Gas dagegen „nur“ die Summe seiner chemischen Bindungsenergie ist. Die Nachhaltigkeit unserer Energieversorgung entscheidet sich bei der CO2-freien und nicht-nuklearen Stromversorgung. Das ist keine Absage an Solar- oder Erdwärme, die auch in unseren Breitengraden hier und da durchaus zur Wärmeversorgung beitragen können, und schon gar nicht an die notwendige Effizienzsteigerung bei jeglichem Energieverbrauch. Es ist zudem vollkommen klar, dass Industrie, Verkehr, Kleinverbrauch und sogar die Restwärmeversorgung energieeffizienter Gebäude auf elektrischem Strom beruhen werden. Und dieser Strom wird aus Sonne und Wind sowie ein wenig Wasserkraft und Biomasse hergestellt werden. Mit der Kernfusion oder anderen unerschöpflichen Energiequellen müssen wir auf absehbare Zeit nicht rechnen.
Speicherung als Schlüssel
Alle wissen längst, dass eine Stromversorgung aus Sonne und Wind ein Speicherproblem hat, das zumindest für den saisonalen Ausgleich Wasserstoff aus Elektrolyse erfordert. Dafür dürfte der Wasserstoff am besten am Ort seiner Erzeugung bleiben, um mittels Brennstoffzellen oder Gasturbinen in Elektrizität rückverwandelt zu werden. Viel mehr erscheint ein Stromnetz optimal, das eine jederzeit sichere Versorgung sicherstellen kann, weil es Elektrolyseure, Wasserstoff-Speicherund Rückverstromer an jeweils einem Ort unterhält. Ein Wasserstofftransport ist sodann nicht nötig. Auch kann der bei der Elektrolyse entstehende Sauerstoff verwertet werden, beispielsweise effizienzverbessernd bei der Rückverstromung. Die anfallende Wärme kann wiederum zur Versorgung geeigneter naher Verbraucher genutzt werden.
Gebäude im Fokus
Eine solche Infrastruktur hat noch weitere Vorteile: Interessant ist beispielsweise die Perspektive, dass eine saisonal gesicherte Stromversorgung die kurzfristigeren Stabilisierungsaufgaben des Stromnetzes mit erledigt. Teure Kleinlösungen wie hausinterne Batterien oder die bidirektionale Netzverbindung von Fahrzeugbatterien werden nicht benötigt. Natürlich wird das die Dezentralisierungs-Ideologen betrüben, aber diese müssen sich ja ohnehin mit Gigawatt-Windparks, Interkontinentalkabeln und Wasserstoffpipelines abfinden. Aus dem bestehenden Stromnetz lassen sich gestützt durch Wasserstoffzentren auch die Wärmepumpen versorgen, die unsere Gebäude heizen und warmes Wasser bereitstellen. Als Wärmespeicher stehen Warmwassertanks zur Verfügung, die elektrische nachgeheizt werden können. Wärme-Kraft-Kopplung verliert ihren Sinn, da Strom auch Wärme kann. Es wird eine reine Kostenfrage sein, ob dabei auch Erdwärme oder Solarkollektoren eingesetzt werden – Erdwärme ist allerdings nicht so sauber und erneuerbar wie Sonne und Wind.
Verkehrssektor
Auch der Verkehr wird durchgängig elektrisch. Schienenfahrzeuge werden bereits überwiegend unmittelbar mit Strom betrieben. Noch nicht mit Oberleitungen ausgerüstete Strecken müssen nachgerüstet werden. Lediglich die PKW dürfen auf praktikable Batterielösungen hoffen. LKW und andere schwere Nutzfahrzeuge könnten mit Brennstoffzellen betrieben werden, die Wasserstofftankstellen benötigen. Die Erzeugung des benötigten Wasserstoffs kann dabei vor Ort geschehen. Denn Wasserstoff kann einfach an den Tankstellen erzeugt werden, wo er auf das erforderliche Druckniveau von bis zu 800 bar verdichtet werden muss. Die Betreiber solcher Anlagen sind sodann Stromkunden wie andere Betriebe auch. Die erforderliche Tankinfrastruktur kann zudem klein gehalten werden. Es ist letztlich eine Frage der Systemkosten, ob zentrale Großelektrolyseurstationen Druckflaschen mit Wasserstoff befüllen, die dann mit Lastwagen zu den Tankstationen gebracht werden – oder ob Wasserstoff einfach vor Ort erzeugt wird. Ob jedoch das künftig nicht mehr benötigte Erdgasnetz die Tankstellenversorgung übernehmen könnte, scheint mir fraglich – nicht wegen der Umrüstung auf Wasserstoff an sich, sondern wegen des Druckniveaus und der Überdimensionierung des bestehenden Netzes in einer nachhaltigen Zukunft. Jedenfalls erscheint die Vorstellung abwegig, wir müssten das Erdgasnetz mit Wasserstoff füllen. Wer soll der Abnehmer dafür sein? Der Wärmemarkt wird schließlich direkt mit dem Primärenergieträger (!) Strom bedient.
Batterien statt Brennstoffzellen
Schon vor mehr als 30 Jahren gab es Untersuchungen zu wasserstoffspeichernden organischen Flüssigkeiten, die heute LOHC genannt werden und wegen ihrer Stabilität bei Umgebungsdruck attraktiv erscheinen. Ob beim heutigen Stand der benötigten Materialien und Technologien brauchbare Lösungen gefunden werden, ist eine offene Forschungsfrage. Die gesamte Zeit über, die ich im Bundesministerium für Forschung und Technologie, als Programmdirektor beim DLR oder als Vorstand im Forschungszentrum Jülich mit Brennstoffzellen zu tun hatte, verschob sich die Vorteilsgrenze in Verkehrssystemen langsam, aber merklich zu Gunsten der Batterie. Heute sind neben PKW bereits leichte Nutzfahrzeuge batterieelektrisch betreibbar, während es vor 20 Jahren noch als gesichert galt, dass sämtliche Autos irgendwann mit Brennstoffzellenantrieb fahren würden.
Beständige Luftschlösser
Unter dem Begriff „Sektorkopplung“ werden auch heute noch Ideen allzu kritiklos diskutiert, die bei einer genauen Betrachtung schon längst durchgefallen sind. So ist beispielsweise keine Notwendigkeit zu erkennen, warum Stromspeicheranlagen zur Netzstabilisierung zugleich den Wasserstoff für Tankvorgänge von Fahrzeugen herstellen sollen. Beide Anwendungen sind in der Betriebsweise und auch wirtschaftlich verschieden einzuordnen. Die Erzeugung von Stromspeicherwasserstoff ist ein innerbetrieblicher Vorgang beim Netzbetreiber, während H2-Kraftstoff ein handelbares und der Besteuerung durch den Fiskus unterfallendes Marktprodukt ist. Auch die ebenfalls weit verbreitete Erwartung, PKW-Batterien müssten rückspeisend das Netz stabilisieren, dürfte auf enge Akzeptanzgrenzen beim Normalbürger stoßen. Die Kosten dies zu realisieren wären hoch, denn aktuelle Fahrzeuge, Wallboxen und Ladestationen können dies nicht – und wer möchte schon zu seinem Auto gehen, nur um festzustellen, dass der Akku für ein paar Cent vom Netzbetreiber geleert wurde? Wenn die Netzbetreiber durch wasserstoffbasierte Speicher- und Stabilisierungszentren Versorgungssicherheit bieten können, erübrigen sich diese Diskussionen.
Transport- und Anwendungsfragen
Die Industrie benötigt an einigen Stellen, beispielsweise in der Stahlerzeugung, so große Energiemengen, dass ihre Versorgung aus mitteleuropäischen Solar- und Windanlagen illusorisch erscheint. Ein Grund dafür liegt in der Akzeptanzkrise der Windenergie. Darüber hinaus wird Wasserstoff auch als Reduktionsmittel oder Reaktionspartner durch die Industrie in Anwendungsfällen benötigt, die mit Strom technisch nicht zu decken sind. Die Lösung für diese lange bekannten Herausforderungen soll nun der Import großer Energiemengen aus fernen Regionen sein. Schon vor 50 Jahren gab es solche Überlegungen, die zuletzt vor 15 Jahren mal wieder aufgegriffen wurden. Im Rahmen der französischen Initiative für eine Mittelmeer-Union sollte der Import von Solar- und Windstrom aus Nordafrika organisiert werden, für deren Erzeugung die „DESERTEC“-Initiative sorgen sollte (aber nicht konnte); die technologische Transport-Lösung hieß eindeutig „HGÜ“, also der Transport durch Hochspannungs-Gleichstromkabel durchs Mittelmeer. Heute scheint man den Wasserstofftransport für besser zu halten. Sicher haben Wasserstoffpipelines geringere Transportverluste als eine HGÜ, andererseits muss der Wasserstofftransport die Umwandlungsverluste bei der Elektrolyse überkompensieren, was leicht übersehen wird. Importstrom könnte hingegen einfach wie offshore-Windstrom in das europäische Stromnetz eingespeist werden – Wasserstoff müsste unter weiteren Verlusten rückverwandelt werden, sofern er nicht als Reduktionsmittel (Stahlindustrie) oder Reaktionspartner (Chemie) unmittelbar eingesetzt wird. Es ist wiederum eine Kostenfrage, ob dieser industrielle Bedarf nicht besser durch Elektrolyseure vor Ort erzeugt werden sollte. Man muss wohl auch leise fragen, ob ein klimaneutrales Europa noch ein geeigneter Standort für Stahlproduktion ist, wenn sowohl das Erz wie auch das Reduktionsmittel interkontinental herbeigeschafft werden müssen.
Solarthermische Kraftwerke in Afrika werden seitens der europäischen Politik gerne als Lösung unserer Energieprobleme aus dem Hut gezaubert – oder genauer genommen als Lösung für die hiesigen Akzeptanzprobleme erneuerbarer Anlagen wie Windparks. Bisher sind sämtliche Anläufe gescheitert, derartige Lösungen außerhalb von Forschungsprojekten kommerziell erfolgreich zu realisieren. Warum dies mit Wasserstoff anders werden soll, darauf hat niemand eine Antwort.
Strom ist die Zukunft
Wie man es also dreht und wendet, es bleibt hochgradig prioritär, möglichst viel erneuerbaren Strom in Europa zu erzeugen. Aus volkswirtschaftlichen Gründen sollte der Staat auch verhindern, dass sich Batteriesysteme zur Erhöhung des Eigenverbrauchs verbreiten – und diese Fehlentwicklung schon gar nicht fördern. Das Ziel muss stets eine Netzstabilisierung und nicht eine gefühlte Autarkie sein, die in der Realität ohnehin nicht besteht. Diese dezentralen Investitionen in Kleinstspeicher und Optimierungen auf Hausebene verursachen zudem mit Sicherheit wesentlich höhere Kosten als die Integration dezentraler Stromerzeuger in das allgemeine Netz, das durch zentrale Speicherzentren effizienter und kostengünstiger stabilisiert werden kann. Es ist auch auf Dauer nicht hinzunehmen, dass Batteriebetreiber die Sicherheit einer Netzanbindung in Anspruch nehmen, ohne angemessen dafür zu bezahlen; da lassen sich die Villenbesitzer von den kleinen Mietern ohne Möglichkeit zur Eigenstromoptimierung doppelt subventionieren!
Förderung verzerrt den Markt
Auch eine weitere, mit Wasserstoff eng verbundene Strategie ist sehr kritisch zu betrachten: die sogenannten „Designer-Kraftstoffe“, auch bekannt als „Power-to-Liquid“, die unter hohen Verlusten aus erneuerbarem Strom gewonnen werden sollen. Es erscheint unter Berücksichtigung von Wandlungsverlusten und Kosten illusorisch, auf diesem Weg dem überkommenen Verbrennungsmotor künstlich eine wirtschaftliche Zukunft zu sichern. Hier ist entscheidend, dass der Staat sich nicht zu Subventionen verführen lässt, die unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten bessere Alternativen unfair verdrängen. Einzig beim Luftverkehr ist „grünes Kerosin“ möglicherweise besser als grüner Wasserstoff, wenn eine direkt-elektrische Antriebslösung ausscheidet. Bei all diesen Technologien besteht die Gefahr, dass der Staat durch „fördernde“ Maßnahmen den Wettbewerb zwischen verschiedenen, gleichermaßen CO2-freien Wegen verzerrt und die Energiewende so unnötig teuer macht. Diesen in der Vergangenheit mehrfach unterlaufenen Fehler dürfen wir nicht wiederholen. Gerade die Faszination des Wasserstoffs, dem seit Jules Verne so viele zu erliegen drohen, könnte die Politik zu weiteren Fehlimpulsen verleiten.
Preisfrage
Deutschland – und wohl auch die EU insgesamt – sind bei der Dekarbonisierung der Stromproduktion wesentlich weiter als bei der Verminderung des Energieverbrauchs; die unausgewogene Vernachlässigung der Energieeinsparung gegenüber den erneuerbaren Energien ist eine der erwähnten Fehlsteuerungen. Deshalb ist ein hoher Strompreis – für Verbraucher und gewerbliche Verbraucher gleichermaßen – und die damit verbundene Lenkungswirkung natürlich hilfreich. Gleichwohl wirft ein hoher Strompreis natürlich soziale Probleme bei niedrigen Einkommen auf. Diese Probleme lassen sich durch die Erhöhung sozialer Einkommensbestandteile lösen. Keinesfalls darf jedoch der Strompreis selbst für sozial schwache Haushalte abgesenkt werden, da sonst an dieser Stelle die Lenkungswirkung verloren ginge, so wie es jetzt bei den bisher privilegierten Großverbrauchern der Fall ist.
Klimaneutralität
Einem für erneuerbare Energien und nachhaltige Entwicklung engagierten Menschen sei schließlich noch ein zweifelnder Gedanke erlaubt: wir wissen aus einer Unzahl von Tatbeständen, dass Reinheit umso teurer wird, je höher der erreichte Reinheitsgrad ist; die letzten Prozente an Klimaneutralität werden uns 2045 extrem teuer zu stehen kommen, während gleichzeitig anderswo auf unserem Planeten vermutlich Kohle, Öl und Erdgas weiter billig gefördert und verbrannt werden. Gleichzeitig wird es an vielen Orten der Welt trotz guten Willens an dem nötigen Kapital fehlen, auch nur kleinste Schritte zur Treibhausgasreduzierung zu unternehmen. So wie der Coronaviren-Schutz erst dann perfekt ist, wenn er global realisiert wird, so ist es erst recht beim Klimaschutz der Fall. Es ist nicht moralisch, sondern unmoralischer Egoismus, enorme Ressourcen für die letzten Prozente an Klimaneutralität im eigenen Land aufzuwenden, solange anderswo billiger für Reduktion gesorgt werden kann. Bevor hierzulande extrem teure Anlagen zur CO2-Entfernung aus der Atmosphäre oder für synthetische Kraftstoffe subventioniert werden, ist weltweit nachhaltige Entwicklungshilfe zu leisten. Oder um es konkret zu benennen: Wollen wir wirklich in Ländern, die noch tief im fossilen Zeitalter stecken, Solarkraftwerke bauen, die nicht dort die Energieprobleme lösen, sondern ausschließlich uns dienen?