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Strommarktdesign als Sektordesign

Bevor der Strom-Wärme-Sektor auf der Höhe der Zeit angekommen ist, gilt es, einige Grundsätze ökonomischer Lehrbücher zu hinterfragen und Versorgungssicherheit von unten nach oben zu denken.
Von Uwe Leprich

(27. April 2023) Man musste in den letzten Jahren den Eindruck gewinnen, dass der in den 1990er-Jahren gestaltete Ordnungsrahmen des liberalisierten Stromsektors ähnlich in Stein gemeißelt war wie vorher das deutsche Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) von 1935. Jeder noch so gravierende Einwand, dieses Design sei nun wahrlich nicht mehr auf der Höhe des dekarbonisierten, erneuerbaren und digitalisierten Zeitalters, prallte ab wie an einer Gummiwand.

1680 Uwe Leprich

Uwe Leprich ist seit 1995 Hochschullehrer an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes und leitete von April 2016 bis März 2018 die Abteilung Klimaschutz und Energie des Umweltbundesamtes.

War es seinerzeit die Europäische Kommission in Brüssel, die das durch das EnWG über 60 Jahre lang abgesicherte Konzernkartell knackte, sind es nun eine Reihe von Mitgliedstaaten, die angetreten sind, die Brüsseler Orthodoxie aufzubrechen – nicht zuletzt aus der Motivation heraus, den exorbitanten „Zufallsgewinnen“ der Stromerzeuger zuungunsten der Verbraucher einen Riegel vorzuschieben.

Auch wenn die deutsche Bundesregierung sich hier bislang nicht als besonders engagiert hervorgetan hat, hat sie doch im Januar einen Stakeholderprozess aufgesetzt, um die europäische Diskussion zum zukünftigen Strommarktdesign zu begleiten und möglichst zu beeinflussen. Die entsprechende Plattform „Klimaneutrales Stromsystem“ hat mit Verspätung Ende Februar ihre Arbeit aufgenommen.

Sektor- statt Marktdesign

Zunächst ist es weit mehr als ein sprachliches Ärgernis, den hochkomplexen Stromsektor mit seinen infrastrukturellen Voraussetzungen, seinen differenzierten Auflagen zur Versorgungssicherheit und seinen sonstigen regulatorischen Anforderungen zum „Strommarkt“ zu verzwergen.
Abbildung 1 gibt einen Überblick über die Schlüsselbereiche des immer stärker kombiniert zu betrachtenden Strom-Wärme-Sektors („Sektorkopplung“) und seine aktuellen Herausforderungen.

1680 Abbildung 1: Der komplexe Strom-Wärme-Sektor / Quelle: Uwe Leprich

Strom-Wärme-Sektor neu gedacht

Der im Januar von der EU gestartete Konsultationsprozess bietet nach all den Jahren endlich Gelegenheit, mit den „Lebenslügen“ der Lehrbuchökonomen und Marktgläubigen aufzuräumen und einen Strom-Wärme-Sektor auf der Höhe der Zeit zu gestalten.

Dies betrifft besonders folgende Irrtümer:

  1. Der grenzkostenorientierte einheitliche Großhandelsmarkt sichert Investitionen in Neuanlagen,
  2. die erneuerbaren Energien müssen sich mittel- bis langfristig über den grenzkostenorientierten Großhandelsmarkt finanzieren,
  3. Versorgungssicherheit muss auf zentraler Ebene durch eine „Kupferplatte“ und damit verbunden einen zentralisierten Angebots-Nachfrageausgleich sichergestellt werden,
  4. ökonomische Lehrbucheffizienz ist das Königskriterium für die Ausgestaltung der Energiesektoren.

Hinzu kommen die überfällige Berücksichtigung der spektakulären Kostenentwicklungen im Bereich dezentraler Technologien wie Photovoltaik und Batteriespeicher, extrem ehrgeizige politische Zielsetzungen beim Ausbau dieser Technologien, die zunehmende Elektrifizierung des Wärmesektors (Wärmepumpen) und die dortige Verwendung dezentralen Überschussstroms (etwa in Power-to-X-Anlagen). Außerdem ermöglicht die fortschreitende Digitalisierung immer intelligentere regionale und lokale Systemlösungen für einen dezentralen Angebots-Nachfrage-ausgleich.

Independent System Operator statt EOM

Abbildung 2 gibt eine grobe Einschätzung der geringen Beiträge, die der grenzkostenorientierte Stromgroßhandelsmarkt (Energy-Only-Markt/EOM) im Hinblick auf die Finanzierung der Elemente des künftigen Stromsektors leisten kann:

Folgt man dieser Einschätzung, so reduziert sich die Rolle des EOM auf die eines Kurzfristmarkts, der den Einsatz bestehender Anlagen nach der Höhe der Grenzkosten koordiniert. Für die Finanzierung der Kapitalkosten der notwendigen Anlagen ist dieser Markt letztlich zu vernachlässigen, wie mittlerweile immer mehr Analysten erkennen. Letztlich haben die Einnahmen an der Strombörse in der Perspektive den Charakter eines „Zubrotes“, das man gerne mitnimmt, wenn die Finanzierung anderweitig gesichert ist.

1680 Abbildung 2: Finanzierungsmodelle / Quelle: Uwe Leprich

ISO sichert Finanzierung

Die Finanzierung der notwendigen neuen Anlagen wird, so ein Diskussionsvorschlag, von einem neuen Schlüsselakteur sichergestellt, dem Independent System Operator (ISO). Er hat folgende Aufgaben:

  • Koordination der Ausschreibungen für Erneuerbare- und KWK-Anlagen gemäß des Zielkorridors der Bundesregierung (bislang Bundesnetzagentur),
  • Organisation des Geldflusses zu diesen Anlagen wie heute über die Netzbetreiber,
  • Koordination der Ausschreibungen für Flexibilitätskapazitäten gemäß einer jährlichen Leistungsvorausschau,
  • Organisation des Geldflusses zu diesen Anlagen in Form fixer Kapazitätsvergütungen,
  • gegebenenfalls Überprüfung des Abrufs der Flexibilitätskapazitäten day-ahead durch die Übertragungsnetzbetreiber nach Grenzkosten.

Mitunter wird eingewendet, eine Koordinationsaufgabe, wie sie hier dem ISO auferlegt wird, lasse sich nur vom „Markt“ erbringen. Dies verkennt jedoch die Möglichkeiten, die sich heute durch ausgereifte IT-Systeme eröffnen. Das beweisen bereits die komplexen Fahrpläne, die von den Übertragungsnetzbetreibern täglich zu erstellen sind. Zudem würde der ISO eng mit den Bilanzkreisverantwortlichen zusammenarbeiten, deren Anforderungskatalog erweitert werden müsste.

Zentrales Element zur Versorgungssicherung sind die oben aufgeführten Ausschreibungen für Flexibilitätsoptionen und mögliche zusätzliche Ausschreibungen für Reservekapazitäten durch die Regelzonenverantwortlichen. Stehen sie dem System ausreichend zur Verfügung, können die Übertragungsnetzbetreiber in ihren Regelzonen bei Bedarf darauf zurückgreifen. Da es in Deutschland vier Regelzonen mit unterschiedlichen Übertragungsnetzbetreibern und heterogenen Anteilseignern gibt, sollte der Independent System Operator (ISO) als Hauptverantwortlicher für die Versorgungssicherheit benannt werden.

Versorgungssicherheit von unten nach oben

Zur Unterstützung dieser Aufgabe und um den Druck auf einen ausreichenden und pünktlichen Netzausbau abzumildern, sollten Systeme für einen dezentraleren Angebots-Nachfrageausgleich nach Kräften unterstützt werden. Dazu gehören Anreize für ein optimiertes Netzlastmanagement im Verteilnetzbereich unter systematischer Einbeziehung dezentraler Optionen und einer Gesamtoptimierung von Strom-, Gas- und Wärmenetzen. Außerdem ein straffes Regelwerk für den Bilanzkreisausgleich mit der nachweislichen Nutzung dezentraler Optionen, die Unterstützung von Quartierskonzepten mit einem hohen Autonomiegrad, die Ausweitung von Mieterstromkonzepten oder auch die Einrichtung von Subregelzonen immer dort, wo die regionalen Potenziale diese Möglichkeit bieten.

1680 Abbildung 3 Neue Paradigma einer energiewirtschaftlichen Subsidiarität / Quelle: Uwe Leprich

Abbildung 3 skizziert das neue Paradigma einer energiewirtschaftlichen Subsidiarität, die der veränderten Verantwortung für die Versorgungssicherheit Rechnung trägt:

Sektordesign der Zukunft

Im Gefolge der Liberalisierung wurden vor allem die Lehrbuchökonomen nicht müde uns einzureden, dass die ökonomische Effizienz im Sinne der Wohlfahrtstheorie das dominierende Kriterium bei der Gestaltung der Energiesektoren sein müsse. Ganz dem neoliberalen Zeitgeist erlegen machten sich auch die Politiker dieses Diktum zu eigen. In Krisenzeiten wie der heutigen bietet sich schließlich die Chance, diese ökonomistische Perspektivverengung aufzubrechen und stattdessen Kriterien wie Resilienz, Akzeptanz oder soziale Gerechtigkeit in das Zentrum eines zukunftsgerichteten Sektordesigns zu stellen. Gewichtet man diese Kriterien angemessen hoch, spricht alles dafür, sämtliche Weichen für eine deutlich stärkere Dezentralisierung des Strom-Wärme-Sektors zu stellen.

Die „groß angelegte“ (EU-Kommission) Reform des Stromsektors bietet die Gelegenheit, diesen in Kombination mit dem Wärmesektor nachhaltig und zukunftssicher zu gestalten. Der Kompass dafür sollte den drei „D“-Herausforderungen Rechnung tragen: Dekarbonisierung, Digitalisierung und Dezentralisierung. Das setzt den politischen Willen voraus, die bisherigen inkrementellen Schneckenpfade zu verlassen und konzeptionell Neuland zu beschreiten.

letzte Änderung: 27.04.2023