ED 04/12 Eine Welt ohne Öl (S.30-31)

Blick über den Tellerrand

Nachhaltig in Energieversorgung, Stadtplanung und Zusammenleben – wie das geht, zeigt schon seit vielen Jahren die Stadt Boulder mit ihrer Metropolregion Boulder County. Eine Spurensuche am Fuße der Rocky Mountains in Colorado, USA.
Von Paul Reuther

(3. Mai 2023) Vor wenigen Monaten hat Joe Biden in den USA Milliardeninvestitionen angekündigt, die in den nächsten Jahren in Energiesicherheit, Klimaschutz und den Sozialbereich fließen sollen. Auch die EU plant bis 2050, viele Milliarden für den Green Deal auszugeben. Aber ändern diese gigantischen Geldmengen etwas in unseren Köpfen und unserem Verhalten in Sachen Klimaschutz und Nachhaltigkeit? Gibt es Gemeinsinn in dieser Sache? Man hofft auf schnelle und wirksame Veränderungen, aber man bekommt auch Zweifel angesichts der aktuellen Milliardengewinne der fossilen Energiekonzerne Exxon, Shell, BP, Total oder Chevron.

517 Paul Reuther

Paul Reuther | Arzt i.R., nutzt mit seiner Familie seit 2004 Photovoltaik, seit 2015 Geothermie und seit 2020 E-Mobilität unter den jeweiligen Rahmenbedingungen in Deutschland.

Kürzlich habe ich im Internet den Artikel „Boulder. Eine Stadt auf dem Weg zur Nachhaltigkeit“ gefunden. Carolina Cavazos Guerra, Wissenschaftlerin am vom Helmholtz-Zentrum Potsdam, schreibt begeistert über die Aktivitäten und Erfolge, wie die amerikanische Stadt Boulder gemeinschaftlich und regional – die Einwohner, Unternehmen, kommunalen Verwaltungen und Non-Profit-Organisationen – seit vielen Jahren (!) Initiativen für ein nachhaltiges Leben entwickeln, beschließen und umsetzen. Dabei werden die natürlichen Ressourcen der Region wie ein Augapfel gehütet. Erneuerbare Energien für jedermann, ein gemeinsam verabredetes regionales Energiesteuersystem und bürgernahe Transparenz stehen im Mittelpunkt.

Der Stadt Boulder mit der Region Boulder County fühle ich mich verbunden, seit unsere Tochter mit ihrer Familie dort lebt und arbeitet. Boulder wird als eine der glücklichsten amerikanischen Städte beschrieben – und auch als eine der nachhaltigsten. Die Stadt liegt atemberaubend schön an den östlichen Ausläufern der Rocky Mountains. Die Metropolregion Boulder hat etwa 350.000 Einwohner, eine vergleichsweise junge, sportbegeisterte und linksliberale Bevölkerung und eine Universität. Forschungsinstitute aus den Geowissenschaften, der Umwelt und Klimaforschung sind prägend.

517 Stadt Boulder in Colorado, USA / Foto: mitchbowers / stock.adobe.com

Die Folgen des Klimawandels sind auch in Boulder County spürbar: In den endlosen Wäldern der Rocky Mountains gibt es massive Trockenschäden und Borkenkäferbefall und seit Jahren treten regelmäßig Waldbrände auf. 2013 gab es eine große Flut am Boulder Canyon und im Städtchen Lyons am St. Vrain River und 2021 einen verheerenden Stadtbrand im Boulder-Stadtteil Louisville, der durch die Wetterlage mit ungewöhnlich starken Fallwinden massiv befeuert wurde. Diese regionalen Auswirkungen des Klimawandels führten zu einer Weiterentwicklung der regionalen Nachhaltigkeitsinitiativen und des regionalen Steuersystems – mit hoher Zustimmung der regionalen Bevölkerung!

Sustainability – nachhaltig und regional

Es begann in den 1960ern mit dem kommunalen Erwerb von Open-Space-Flächen, Parks und Naturschutzflächen, durch die Kommunalverwaltung und deren extensive Nutzung für die Bevölkerung und das städtische Klima. Bereits seit 2006 gibt es mit großer Zustimmung (vote) der Bevölkerung (residents) eine regionale Steuer auf Strom aus fossilen Energieträgern, die von allen Haushalten, Geschäften und Betrieben entrichtet werden muss. Wer wenig Strom verbraucht, zahlt weniger. Die Produktion von erneuerbaren Energien ist von dieser Steuer befreit. Die Einnahmen aus der regionalen Stromsteuer fließen ausschließlich in den Klimaaktions- und Nachhaltigkeitsplan von City und County, für deren diesbezügliche Bildungs- und Beratungsarbeit, für den öffentlichen Personennahverkehr und Erholungswege. Für die Einwohner in Boulder City und der County ist der konkrete Nutzen der regionalen Stromsteuer offenbar so unmittelbar positiv spürbar und nach den erfahrenen Klimakatastrophen der Bedarf so hoch, dass die große Mehrzahl der Wählerinnen und Wähler immer wieder, zuletzt 2022, für eine Verlängerung des Steuerprogramms jetzt bis 2040 gestimmt hat. Die ursprüngliche Stromsteuer ist mittlerweile zu einer Climate Tax entwickelt worden und wird mit der Stromrechnung erhoben. Sozialhilfeempfänger sind davon befreit. Mit der Verwendung dieser regionalen Steuern geht die Kommune sehr transparent um, berichtet kontinuierlich über die Effekte und Erfolge und besetzt das Thema „positiv“ und für den Einzelnen und die Region „lohnend“ (mind building!).

Nachhaltig – mit vielen Facetten

Im Rahmen des regionalen Nachhaltigkeitsplanes in Boulder gibt es seit Jahren ein grünes Bauprogramm für den Wohnungsneubau mit Tipps und Vorschriften zur Energieeffizienz und zum Einsparen von Wasser und Ressourcen (built smart). Vermittelt werden aber auch Fördergelder, Rabatte und Handwerker.

Es gibt EnergySmart, ein Gemeinschaftsprojekt der Stadt und des Bezirks Boulder, der Nachbarstadt Longmont, der Energieversorger und des US-Energieministeriums. Technische Hilfe, Informationen, Fördergelder, Finanzierung und Rabatte unterstützen Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen in Sachen Energieeffizienz.

In 10 for Change Challenge, einem freiwilligen und kostenlosen Programm, verpflichten sich Unternehmen, ihren Energieverbrauch jährlich um 10 % zu senken. Die Teilnehmenden profitieren von Hilfen bei der Steigerung der Energieeffizienz, bei der Unternehmensentwicklung und der Öffentlichkeitsarbeit. Die Firmen vernetzen sich und tauschen sich über Verfahren im Bereich der Nachhaltigkeit aus.

Das Boulder’s Water Conservation Program bietet Beratung und Rabatte für Firmen, die drinnen oder draußen die Wasserbewirtschaftung verbessern wollen. Niedrigere Wasser- und Stromkosten dienen allen – vor allem der Nachhaltigkeit.

PACE (Partners for a Clean Environment) bietet kostenlos technische Hilfe bei der Verbesserung der Energieeffizienz, der Senkung des Wasserverbrauches und des Abfallmanagements.

Energie – neu gedacht

Wind, Sonne und Wasser spielen eine zentrale Rolle auf dem Weg zur Nachhaltigkeit. Solarenergie wird in Boulder massiv gefördert entweder als private Investition auf dem eigenen Dach oder als individuelle Beteiligung an „Solar-Gärten“, die von kommunalen Trägern oder den regionalen Stromversorgern und Netzbetreibern gebaut, gewartet und betrieben werden. Man „kauft“ eine Beteiligung gegen eine einmalige Gebühr und darf dafür bis zu 20 Jahre lang den Stromertrag definierter Solarpaneelen im gemeinschaftlichen Solar-Garten nutzen und gegen den eigenen Verbrauch verrechnen. Das öffentliche Netz ist faktisch der regionale Solarstromspeicher.

Der konkrete Energiehaushalt einer vierköpfigen Familie in Boulder: Die Familie meiner Tochter heizt das Haus mit Gas. Seit einiger Zeit etwas sparsamer als früher und mit gelegentlichem Kaminfeuer in einer geschlossenen Brennkammer. Ab 2016 hatte die Familie zunächst ein Hybridauto und seit 2020 zwei E-Autos (unsere Tochter fährt aber mit dem E-Bike, der Schwiegersohn 20 Meilen mit dem regionalen Bus zur Arbeit, die Töchter benutzen das Fahrrad zur Schule). Das Wohnhaus der Familie hat eine ungeeignete Dachneigung für die eigene Solarproduktion und große verschattenden Bäume auf dem Grundstück.

„Eigene“ PV-Anlage beim Versorger

Für den erneuerbaren Strom hat man sich zunächst beim lokalen Stromunternehmen in einen Solar-Garten eingekauft. Die Anzahl der „genutzten“ Paneelen ist so bemessen, dass zunächst etwa 125 % des kalkulatorischen jährlichen Strombedarfs produziert werden können. Beim Erwerb des zweiten E-Autos wurde 2022 einfach ein weiterer Franchise-Vertrag abgeschlossen. Der Stromverbrauch des Haushalts wird monatlich digital durch das Energieunternehmen ermittelt, die Produktion der „eigenen“ Solarpaneelen ebenfalls. In der monatlichen Rechnung wird der tatsächliche Stromverbrauch aus dem regional verfügbaren, teils fossilen Energiemix (16 $ct/kWh plus Gebühren und Steuern) mit dem Ertrag der eigenen Solarproduktion des Vormonats (9 $ct/kWh ohne Steuern, aber mit geringer Franchise-Abgabe) verrechnet. Im Franchise-Vertrag ist außerdem geregelt, dass die Solarpaneelen und die dazugehörigen Wechselrichter und sonstigen Anlagen durch das Unternehmen sorgfältig gewartet und wenn nötig repariert werden. Eine Unterbrechung der Stromproduktion durch Schnee oder Defekte, die nicht kurzfristig behoben werden kann, geht zu Lasten des Verbrauchers (könnte aber versichert werden).

Nach dem Einblick in die Energierechnungen und Verträge unserer Kinder war ich „very impressed“ über die Einfachheit des regionalen Angebots und der Basisabstimmung des Systems zwischen Bürgerinnen und Bürgern, der kommunalen Verwaltung, dem Energieunternehmen und der staatlichen Energiewendeförderung. Etwas neidisch stimmt der gelebte Common Sense und der direkte positive Nutzen für den Bürger und die Prävention für zukünftige Entwicklungen. Sustainability – Nachhaltigkeit: Greenwashing, Intransparenz, Hyperbürokratie und sonstige Fallstricke scheint es nicht zu geben.  

letzte Änderung: 09.05.2023