Das falsche Versprechen einer Wasserstoffwirtschaft
Die Politik finanziert großzügig Programme zur Neuschaffung einer Wasserstoffwirtschaft ohne Berücksichtigung von physikalischen Zusammenhängen und technischen Grenzen. Die von Fördergeldempfängern hochstilisierte Idee, Wasserstoff als universellen Wunderenergieträger zu nutzen, der unsere Energieprobleme löst, wird an der Energiebilanz der Wasserstoffkette scheitern.
Von Dr. Ulf Bossel
(20. Juni 2022) Nur Energie aus erneuerbaren Quellen kann der Menschheit langfristig und klimaneutral dienen. Die aus Wind, Sonne und Wasser geerntete Energie steht allen Sektoren in hochwertigster Form als elektrischer Strom nahezu unbegrenzt zur Verfügung. Für den Transport dieses grünen Primärstroms von der Quelle zum Energieverbraucher gibt es mehrere Wege mit unterschiedlichen Energiebilanzen.
Dr. Ulf Bossel studierte Maschinenbau an der ETH in Zürich, promovierte an der University of California in Berkeley, dozierte als Professor an der Syracuse University (New York), war in leitender Funktion für das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) tätig und ist Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Sonnenenergie (DGS). Bossel lebt in der Schweiz und ist freischaffender Innovationsberater für Brennstoffzellentechnik sowie nachhaltige Energielösungen.
Zur Verwirklichung der Energie- und Klimawende muss deshalb stets die Frage beantwortet werden: „Wie kann mit einer Kilowattstunde grünem Primärstrom am meisten Nutzen generiert werden“? Dazu sind Energiewandlungsketten miteinander zu vergleichen. Die Wirkungsgrade der einzelnen Wandlungsschritte sind bekannt. Man kann für jede dieser Übertragungsketten die Gesamtenergiebilanz „von der Wiege bis zur Bahre“ erfassen und das zukünftige Energiesystem gezielt für eine möglichst hohe Gesamteffizienz und damit langfristig niedrige Kosten optimieren. Leider ist die Energiebilanz der Wasserstoffnutzung nicht Teil der öffentlichen Diskussion – gleichwohl die Energiedepesche seit Jahren regelmäßig über diesen Aspekt berichtet (siehe „Gedanken zur Wasserstoffbegeisterung“; „Wasserstoff: Joker für die Energiewende?“; „Milliarden für Wasserstoff“ und „Wasserstoffmobilität als Königsweg?“).
Sinn und Notwendigkeit
Wasserstoff ist für die Gestaltung der Energiewende ein unbequemer Energieträger. Die Wasserstoffversorgung beginnt mit der Beschaffung und Destillation von rund 9 Liter Wasser pro Kilogramm zu erzeugendem H2 für die Elektrolyse. Der mit einem Wirkungsgrad von rund 70 Prozent erzeugte Wasserstoff muss mehrfach komprimiert, verteilt beziehungsweise transportiert und umgefüllt werden. Im Endbereich wird er wieder in Strom verwandelt oder verheizt. Alle Wandlungsschritte sind mit Energieverlusten oder zusätzlichem Energiebedarf verbunden.
Die bereits im Jahr 2002 auf dem European Fuel Cell Forum in Luzern unter dem Titel „The Future of the Hydrogen Economy: Bright or Bleak?“ vorgetragene Energieanalyse einer Wasserstoffwirtschaft ist im Auftrag des Fraunhofer-Instituts für Technikfolgeabschätzung übersetzt und im Jahr 2010 vom Leibniz-Institut frei zugänglich veröffentlicht worden. Basierend auf diesen Ergebnissen wird im Folgenden exemplarisch dargestellt, welchen Nutzen man aus grünem Primärstrom ziehen kann, wenn man ihn direkt über bestehende Leitungen verteilt oder indirekt über Wasserstoff verwertet.
Nachhaltige Wärmeerzeugung
Eine erneuerbar erzeugte Kilowattstunde (kWh) Strom kann über bestehende Leitungsnetze mit vernachlässigbaren Verlusten verteilt und in Heizwärme umgewandelt werden. Man kann allerdings viel besser eine Wärmepumpe betreiben und erhält etwa drei bis vier kWh Wärme. Auch lässt sich mit dem grünen Primärstrom Wasser elektrolytisch spalten. Der so erzeugte Wasserstoff wird im Erdgasnetz verteilt und in Heizkesseln verbrannt. In diesem Fall müssen mit dem grünen Primärstrom alle zuvor genannten Wandlungsschritte energetisch bedient werden. Lediglich die Hälfte der Originalenergie steht noch für die Erzeugung von Nutzwärme zur Verfügung. Der Vergleich mit den zwei anderen Optionen ist vernichtend: Eine grüne Kilowattstunde liefert mit Wärmepumpe 3 bis 4 kWh, mit einem Widerstandsheizer 1 kWh aber über Wasserstoff nur gut 0,5 kWh nutzbare Heizwärme. Es ergibt folglich keinen Sinn, aus grünem Primärstrom Wasserstoff für Heizzwecke zu erzeugen. Die mit grünem Strom betriebene elektrische Wärmepumpe ist der klare Sieger für eine nachhaltige Wärmeerzeugung.
Nachhaltige Mobilität
Die Lieferkette von Wasserstoff im Mobilitätssektor unterscheidet sich geringfügig von der Wasserstoffverteilung als Brenngas. Der bei mittlerem Druck über Rohrleitungen oder Tanklastwagen verteilte Wasserstoff muss an Tankstellen zum Befüllen von Fahrzeugtanks noch einmal auf rund 700 bar verdichtet werden. Dort angekommen, werden wiederum nur rund 50 Prozent der getankten Energie über eine Brennstoffzelle als Nutzenergie in Form von Strom zur Verfügung gestellt. Der Gesamtwirkungsgrad der Wasserstoffkette liegt für eine Mobilitätsnutzung bei nur etwa 20 Prozent. Vom grünen Primärstrom sind bei einem Batteriefahrzeug hingegen über 80 Prozent für den Fahrzeugantrieb nutzbar. Mit dem grünen Strom, der für den Betrieb eines Wasserstoff-Brennstoffzellen-Fahrzeugs benötigt wird, können also beinahe vier gleichwertige Fahrzeuge mit Batterie betrieben werden. Im Fahrzeugbereich kann Wasserstoff deshalb grundsätzlich keine Zukunft haben. Nicht nur die hohen Energieverluste, sondern auch die enormen Investitionskosten verhindern, dass sich Wasserstoff gegenüber grünem Strom im freien Markt behaupten kann. Eindeutiger Sieger ist auch hier der elektrische Weg. Lediglich für den Verkehr auf langen Strecken zu Luft und zu Wasser wird man im Hinblick auf die notwendige Energiedichte künstlich erzeugte Energieträger einsetzen müssen.
Synthetische Kraftstoffe
Die auch als „Power-to-Gas“ oder „Power-to-Liquid“ bekannten Verfahren zur Herstellung synthetischer Kraftstoffe sind ebenfalls sehr energieintensiv. Der Gesamtwirkungsgrad für die Herstellung synthetischer Kraftstoffe liegt unter 15 Prozent. Beim Einsatz dieser grünen Kraftstoffe gehen noch einmal rund 50 Prozent verloren. Auf die Straße, eine Schiffsschraube oder ein Flugzeugtriebwerk gebracht werden somit im Ergebnis deutlich weniger als 10 Prozent der grünen Primärenergie. Mit dem grünen Primärstrom, der für synthetisch hergestellte „grüne“ Kraftstoffe benötigt wird, könnte man mehr als zehn Batteriefahrzeuge mit Strom versorgen. Auch hier ist der direkte elektrische Weg der klare Sieger – sofern er einsetzbar ist.
Wasserstoff in Gaskraftwerken
Ferner soll grüner Wasserstoff den Verheißungen nach eine CO2-freie Stromerzeugung in Gaskraftwerken sicherstellen. Hier gelten zuerst einmal die bereits für den Mobilitätssektor beschriebenen Wirkungsgrade. Vom grünen Primärstrom, der als Wasserstoff verteilt und in einem Gaskraftwerk wieder in Strom verwandelt wird, bleiben also nur noch etwa 20 Prozent als Nutzstrom übrig. Für eine Energieverteilung mit Wasserstoff müssen folglich rund viermal mehr Wind- oder Solarkraftanlagen errichtet werden als für eine direkte Stromversorgung über bestehende Netze. Auch hier ist die direkte Netzeinspeisung des grünen Stroms der eindeutige Sieger.
Energiespeicherung
Lediglich die Speicherung von Sommersonnenstrom für Dunkelflauten und die Wintermonate ist eine bisher ungelöste Aufgabe. Aber auch in diesem Fall können nur etwa 20 Prozent der eingesetzten Energie zurückgewonnen werden. Wegen der geringen volumetrischen Energiedichte von Wasserstoff werden zudem massive Speichertanks und Kavernen benötigt. Wirtschaftliche Lösungen sind keine in Sicht. Daher sollte zunächst der Energiebedarf im Winter durch eine bessere Gebäudeisolation und organisatorische Maßnahmen drastisch gesenkt werden, damit eine ineffiziente saisonale Wasserstoffspeicherung der im Sommer geernteten Sonnenenergie machbar wird.
Chemische Anwendungen
Bei allen chemischen Prozessen, die heute mit fossilen Brennstoffen durchgeführt werden, kann grüner Wasserstoff den CO2-Ausstoß stark vermindern. Energie wird jedoch vor allem für die Beheizung der Reaktoren eingesetzt. Nur ein kleiner Teil des Brennstoffs wird für den eigentlichen chemischen Prozess benötigt. Die vollständige Substitution der fossilen Brennstoffe würde zu einem enormen Wasserstoffbedarf führen. Als nachhaltige Lösung bietet sich eine Trennung von Aufheizung und Reaktionschemie an. Mit grünem Strom wird geheizt, mit grünem Wasserstoff wird reduziert. In diesem Fall wird grüner Strom effizient genutzt und der energieintensiv erzeugte Wasserstoff nur zur chemischen Reaktion verwendet. Wieder ist die elektrische Beheizung mit grünem Strom besser als die plumpe Substitution der für den Gesamtprozess eingesetzten fossilen Energieträger durch Wasserstoff. Man könnte weitere Beispiele zitieren. Alle haben eines gemeinsam: Grüner Wasserstoff ist nur sinnvoll, wenn er in Reduktionsprozessen kohlenstoffhaltige Energieträger ersetzt, was Strom für sich genommen nicht kann.
Fazit
Alle genannten Beispiele verdeutlichen, dass Wasserstoff ein für die Energiewende problematischer Energieträger ist. Denn mit grünem Strom und dem bestehenden Stromnetz lässt sich saubere Energie aus Sonne, Wind und Wasser wesentlich effizienter und kostengünstiger nutzen. Nur in den Fällen, in denen eine direkte Nutzung nicht möglich ist, kann der Umweg über Wasserstoff eine vertretbare Lösung darstellen. Die Energiewende wird daher nicht mit einer „Wasserstoffwirtschaft“ gelingen, sondern mit einer „Elektronenwirtschaft“. Denn die Infrastruktur für eine Elektronenwirtschaft existiert bereits und muss nur teilweise ergänzt oder ertüchtigt werden.
Notwendig ist zudem eine rationellere Stromnutzung im Endbereich. So führt insbesondere der Austausch von Heizkesseln durch elektrische Wärmepumpen gleicher Heizleistung zu einem Strommangel im Winter. Notwendig ist es daher, Gebäude energetisch zu sanieren bevor man den Öl- oder Gaskessel durch kleinere Wärmepumpen ersetzt. Ebenso muss im Bereich der Chemie, soweit möglich, Strom zu Heizzwecken eingesetzt werden, der durch geringe Mengen an wertvollem Wasserstoff ergänzt werden kann. Solche organisatorischen Maßnahmen müssen vom Gesetzgeber behandelt werden und nicht die Verteilung von Geldern im Gießkannenprinzip zum Aufbau einer ineffizienten und teuren Wasserstoffwirtschaft. Unsere Energie- und Klimaprobleme lassen sich gemeinsam mit grünem Strom und begleitenden Sparmaßnahmen lösen. Mit zeitraubenden, aufwendigen und energetisch fragwürdigen Umwegen über Wasserstoff – in Bereichen, wo diese nicht notwendig sind – wird die drohende Klimakatastrophe hingegen kaum zu vermeiden sein. Die Politik muss schnellstens umdenken, bevor die Weichen in Richtung Sackgasse gestellt sind.