Die Lunte liegt am Pulverfass
Hat der Bundesgerichtshof über viele Jahre Verbraucherrechte unzulässig beschnitten? Das entscheidet nun der Europäische Gerichtshof, nachdem ihn das Kammergericht Berlin angerufen hat. In der Folge könnten Verbraucher zu viel gezahlte Beträge aus den vergangenen Jahren von ihrem Versorger zurückfordern.
Von Aribert Peters
(25. August 2025) Energielieferverträge laufen oft über viele Jahre. Die Preise für Strom, Gas- und Fernwärme werden während der Laufzeit vom Versorger in der Regel wiederholt und einseitig erhöht, denn auch dessen Kosten steigen. Vor überhöhten Preissteigerungen schützen einerseits die zwischen Verbraucher und Versorger geschlossenen Verträge, andererseits die gesetzlichen Vorgaben für Preiserhöhungsklauseln und die entsprechende Rechtsprechung.
In der Strom- und Gas-Grundversorgung gibt es ein einseitiges Preisbestimmungsrecht des Versorgers (§5 Abs 2 Strom/Gas Grundversorgungsverordnung). Erhöhungen müssen der Billigkeit entsprechen laut § 315 BGB (bdev.de/markert). Es dürfen keine Zusatzgewinne erzielt werden, was vom Versorger im Streitfall zu beweisen ist.
2012 Der BGH verkündet die Dreijahresregelung.
Preiserhöhung zulässig?
Außerhalb der Grundversorgung mit Strom und Gas sowie bei der Fernwärmeversorgung ist eine Preiserhöhung nur zulässig, wenn sie zuvor zwischen Versorger und Verbraucher vertraglich vereinbart wurde. Für die Wirksamkeit solcher Klauseln gibt es Voraussetzungen nach deutschem und europäischem Recht. Nach deutschem Recht muss der Verbraucher auf die Klauseln hingewiesen werden, er muss in zumutbarer Weise davon Kenntnis nehmen können und die Klauseln müssen klar und verständlich formuliert sein (BGB § 305 bis 307). Analoge Anforderungen stellt die EU-Richtlinie 93/13 in Artikel 6.
»Durch die Dreijahreslösung des BGH werden die Rechte der Energieverbraucher in unzulässiger Weise erheblich verkürzt«
Kurt Markert, früher Direktor des Bundeskartellamts
Unwirksame Preisklausel
Was passiert, wenn eine Preiserhöhungsklausel sich als unwirksam herausstellt, wie oft bei Fernwärmeverträgen? Dann sind darauf gestützte Preiserhöhungen unwirksam – Verbraucher können zu viel bezahlte Beträge vom Versorger zurückfordern. Der gültige Preis ist dann der ursprünglich vereinbarte Preis. Das legt die EU-Richtlinie von 1993 ausdrücklich fest.
Die Dreijahresregel des Bundesgerichtshofs
Der achte Senat des Bundesgerichtshofs urteilt seit 2012 abweichend davon nach der »Dreijahresregelung«: Verbraucher können Preiserhöhungen nur bis drei Jahre nach Zugang der jeweiligen Jahresabrechnung rückwirkend beanstanden. Wird nicht innerhalb dieser Frist widersprochen, gelten die Preise als akzeptiert und können nicht mehr angefochten werden.
Dies beschneidet die Verbraucherrechte deutlich. Denn zwischen dem ursprünglich vereinbarten Preis und dem drei Jahre zurückliegenden kann es einen beträchtlichen Unterschied geben. Die BGH-Rechtsprechung belässt damit dem Versorger die Früchte der von ihm zu verantwortenden unzulässigen Preisklausel.
2016 Der EuGH verbietet Klauseländerungen.
EuGH verbietet Gerichten Klauseländerungen
Demgegenüber hatte der EuGH hatte in einem Urteil 2016 ausdrücklich entschieden, dass nationale Gerichte nicht befugt sind, den Inhalt missbräuchlicher Klauseln zu ändern, weil das den Abschreckungseffekt für Versorger beseitigt, der darin besteht, dass solche missbräuchlichen Klauseln schlicht unangewendet bleiben (Urteil des EuGH C 154/16 2016, Rn 60).
Der offensichtliche Widerspruch zwischen EU-Recht und BGH-Regelung bleibt seit Jahren unaufgelöst – zum Nachteil der Verbraucher. Der Bundesgerichtshof weigert sich, seine Rechtsprechung dem EuGH vorzulegen und verwehrt dadurch Verbrauchern ihren gesetzlichen Richter. Der BGH rechtfertigt sich damit, dass seine Lösung »offensichtlich richtig« ist, ein sogenannter »Acte éclairé«. Demgegenüber übt das rechtliche Schrifttum daran nahezu einhellig massive Kritik (K. Markert: Preisanpassung …, ZMR 2023, www.bdev.de/Markertzmr)
2024 Das Berliner Kammergericht ruft den EuGH an.
Vorlagebeschluss des Kammergerichts Berlin
Das Kammergericht Berlin hat am 10. Dezember vergangenen Jahres die Dreijahresregelung des Bundesgerichtshofs dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt (Az. 9 U 1087/20, www.bdev.de/eughkgb, ZNER 29/1 2025, S. 5). Damit wurde die Lunte ans Pulverfass gelegt. Denn je nach Urteil des EuGH stehen Verbrauchern möglicherweise erhebliche Rückforderungsansprüche zu.
Folgen für Verbraucher
Auch wenn das Urteil des EuGH erst in etlichen Monaten vorliegen wird, können Verbraucher außerhalb der Grundversorgung sich bereits jetzt auf den Vorlagebeschluss des Kammergerichts berufen.
Im Fall einer unwirksamen Preisklausel, sei es in der Fernwärme- oder Strom- und Gasversorgung, stehen betroffenen Verbrauchern je nach Urteil des EuGH möglicherweise Rückzahlungsansprüche zu für alle von ihnen bereits bezahlten Preiserhöhungen aufgrund unwirksamer Mehrkosten – und zwar unabhängig davon, ob sie in der Vergangenheit gegen die Gültigkeit der Klausel Widerspruch eingelegt haben oder nicht. Natürlich gibt es auch hier Verjährungsfristen.