Der Epochenwandel von Tony Seba

In den kommenden zehn Jahre wird es laut Tony Seba radikale Umbrüche geben: Autonomes Fahren ersetzt Privatautos, erneuerbare Energien und Batterien sichern die Energieversorgung, die tierische Fleischerzeugung wird durch Precision Fermentation ersetzt. Ob der Wandel schneller als die Klimakatastrophe fortschreitet, das liegt an uns.
Von Aribert Peters

(5. Februar 2024) Der amerikanische Stanford-Dozent, Unternehmer und Visionär Tony Seba ist den Energiedepesche-Lesern bereits seit 2016 bekannt, als wir über ihn berichteten. Was er damals vorhersagte, klang utopisch – hat sich bisher aber als richtig herausgestellt –, lediglich die Preise für PV sind schneller als von ihm prognostiziert gesunken. Nun hat Seba noch eine Schippe draufgelegt mit neuen Thesen. Seine Ausführungen bieten einerseits Hoffnung. Andererseits zeigen sich die Platzhalter des alten fossilen Systems gerade sehr stark (siehe „Öl- und Gasgewinne 3 Milliarden US-Dollar täglich“). Ob ihre Kräfte ausreichen, den Wandel zu verzögern und uns damit in den Abgrund der Klimakatastrophe zu ziehen, das liegt an uns. 

 ED 04/2023 Der Epochenwandel von Tony Seba (S.21-23) 

Tony Seba, amerikanischer Stanford-Dozent, Unternehmer und Visionär 

Wandel der Zivilisation

Wir stehen, so Seba, in den kommenden 15 Jahren am Rande der schnellsten, tiefgreifendsten und folgenreichsten Umbrüche in der Geschichte der menschlichen Zivilisation – vor Veränderungen, die ebenso bedeutsam sind wie der Übergang vom Sammeln und Jagen zu Siedlungen und Landwirtschaft vor 10.000 Jahren. 
In den Bereichen Information, Energie, Nahrung und Transport werden die Produktionskosten auf ein Zehntel oder mehr sinken, während die Produktionsprozesse eine zehnmal höhere Effizienz aufweisen, 90 % weniger natürliche Ressourcen nutzen und 10- bis 100-mal weniger Abfall produzieren. Das vorherrschende Produktionssystem wird sich vom zentralisierten Abbau knapper Ressourcen hin zu einem Modell der lokalen Erzeugung aus grenzenlosen, allgegenwärtigen Bausteinen verschieben – eine Welt, die nicht auf Kohle, Öl, Stahl, Vieh und Beton, sondern auf Photonen, Elektronen, DNA, Molekülen und Qubits aufgebaut ist.

Diese Umbrüche passieren nicht automatisch und von selbst. Vielmehr brauchen sie politische Unterstützung, damit sie gelingen. In einem Papier hat Seba auch für Deutschland aufgeschrieben, wie ein rascher Umstieg auf 100 % Erneuerbare bis 2035 gelingen kann. 

 ED 04/2023 Der Epochenwandel von Tony Seba (S.21-23) 

Vom Pferd zum Auto

Was so ein Umbruch bedeutet, erklärt Seba am Beispiel Auto: Der Wechsel vom Pferd zum Auto vollzog sich in nur zehn Jahren: 1910 gab es 11 % Autos auf den Straßen der USA, 1920 waren es 81 %. Zwei neue Industriezweige wurden aus dem Boden gestampft: Autoindustrie und Straßenbau – in einer Zeit mit einem Weltkrieg und der Spanischen Grippe. Diese Umstellung hat alle Bereiche der Gesellschaft grundlegend verändert: Das Auto war nicht nur ein „schnelles eisernes Pferd“, es war etwas völlig Neues und anderes. Konnte man sich 1990 vorstellen, wie Internet und Handys unser Leben innerhalb weniger Jahre verändern würden? Das Internet hat nicht nur Schreibmaschine und Bleistift ersetzt, es hat auch Information und Kommunikation zum Nulltarif ermöglicht und damit jeden Aspekt unseres Lebens verändert. Seba spricht 
von einem Phasenübergang wie dem von Wasser zu Eis. Ein Schmetterling ist nicht eine schnellere Raupe, sondern eine völlig andere Lebensform.

Die Umbrüche der kommenden Jahre haben etwas Besonderes: Sie vollziehen sich in exponentiellem Tempo weitgehend gleichzeitig und überall weltweit und verstärken sich dadurch. Die heutigen Marktbeherrscher setzen alles daran, die alte Welt zu retten und den Umbruch zu verhindern. 

Elektroautos und Transport

Der Übergang vom Verbrenner zum Elektroauto (Electric Vehicle, EV) vollzieht sich in atemberaubendem Tempo. Im weltgrößten Automarkt China haben EV einen Anteil von 39 % an Neuzulassungen, vor fünf Jahren waren es noch 5 %. Bis 2025 werden EV in China einen Marktanteil von 80 % haben. In Norwegen werden schon heute kaum noch Verbrenner verkauft. 2030 wird der Markt für Autos mit Verbrennungsmotoren zusammengebrochen sein, weil die EV dann so günstig geworden sind.

Den großen Umbruch im Verkehrssektor bringen jedoch die EV in Verbindung mit autonom fahrenden Fahrzeugen und dem „Transport on Demand“. Seinen größten Schub bekommt er durch die rasanten Fortschritte der künstlichen Intelligenz, die sich in den kommenden zehn Jahren mit einer gewaltigen Geschwindigkeit entwickeln wird. Das ermöglicht erst autonom fahrende Taxis oder Kleinbusse, den „Transport as a Service“ (TaaS). Selbstfahrende Auto gibt es schon in vielen Ländern, so in China, in den USA. Die Kosten für den Transport als Dienstleistung pro Kilometer werden  auf ein Zehntel der Kosten eines heutigen Autos fallen. Bis 2030 werden 95 % aller Fahrten auf dem TaaS-Konzept basieren. Privater Autobesitz und der Besitz eines Führerscheins erübrigen sich ebenso wie jede Parkplatzsuche. 

Energieumbruch

Das über 100 Jahre etablierte und bewährte Energiesystem befindet sich derzeit im radikalen Umbruch hin zu erneuerbaren Energien. Dieser Umbruch basiert auf drei Technologien: Photovoltaik, Windkraft onshore und Lithium-Ionenbatterien. Seba spricht vom „Solar, Wind and Batteries (SWB)“-System. Zwischen 2010 und 2020 sind die Kosten von PV um mehr als 80 % gesunken, Wind um 45 % und Batteriekosten um fast 90 %. Bis 2030 werden sie um weitere 70, 40 und 80 % sinken. Bestehende konventionelle Kraftwerke können schon heute mit neuen Solar- und Windkraftwerken nicht mehr konkurrieren. Bis 2030 werden sie nicht einmal mehr mithalten können mit batteriegestützten Systemen von Erneuerbaren, deren Erzeugung ganzjährig zur Verfügung steht – Tag und Nacht, sommers wie winters. Investitionen in konventionelle Kraftwerke werden sich als großer Fehler erweisen. Innerhalb der kommenden zehn Jahre wird sich die Stromerzeugung komplett auf Erneuerbare umstellen. Das bestätigen zwei aktuelle Studien der Internationalen Energieagentur IEA

 ED 04/2023 Der Epochenwandel von Tony Seba (S.21-23) 

Die künftigen Kapazitäten aus PV und Wind werden die Höchstlast im Netz um ein Mehrfaches übersteigen (Deutschland 2023: Netzhöchstlast 80 GW, PV 75 GW, Wind 59 GW; Plan 2030: PV 215 GW, Wind 115 GW). Je höher die erneuerbaren Überkapazitäten, desto kleinere Speicher sind notwendig und umgekehrt. Es gibt für jede Region eine kostengünstigste Kombination von Erzeugungs- und Speicherkapazitäten. Tony Seba hat das für konkrete Regionen der USA für alle Stunden des Jahres durchgerechnet und kommt zu dem Ergebnis, dass Speicher mit einer Kapazität zwischen 35 und 90 Stunden (zwei bis vier Tage) je nach Region kostenoptimal sind. Man braucht also, so Tony Seba, weder saisonale Speicher noch Wasserstoff. 

Eigenversorgung aus Sonne und Wind

Seba hat auch eine 100 % erneuerbare Stromversorgung für die USA bis 2030 durchgerechnet und ist auf Stromkosten von 3 ct/kWh gekommen: ohne Nachfragesteuerung, neue Techniken, Erdwärme, Biomasse und konventionelle Reservekapazitäten. Für Deutschland schreibt er: „Unsere vorläufige Analyse zeigt, dass Deutschland bereits 2030 eine vollständige Eigenversorgung mit Strom allein mit Sonne und Wind erreichen kann, und bis 2035 die Gesamtenergieversorgung.“ 
Eine vergleichbare Studie „European Power Sovereignty through Renewables by 2030“ der Aquila Group gibt es auch für Europa mit ganz ähnlichen Ergebnissen. Europa könnte bis 2030 mit den bereits vorhandenen Technologien für erneuerbare Energien Unabhängigkeit in der Stromerzeugung erzielen und damit auf keine fossilen Ressourcen mehr angewiesen sein. 

Bei der Stromversorgung wird der große Überfluss an Stromerzeugungskapazitäten dazu führen, dass große Strommengen die meiste Zeit des Jahres zu sehr geringen Kosten bereitstehen. Seba spricht von „Superpower“. Sie erschließen neue Anwendungsfelder in Wirtschaft und Gesellschaft: Wasserentsalzung, Transportmöglichkeiten, Heizung, industrielle Prozesse, Recycling, CO2-Rückholung aus der Atmosphäre, Herstellung von PV-Anlagen, Verdrängung von Öl und Gas – das alles verbunden mit einer Minderung der Treibhausgasemissionen, weil die bisher verwendeten Fossilenergien verdrängt werden.

Sebas Ratschläge für Deutschland: „Energieunabhängigkeit in Deutschland ist nur durch eine große Anstrengung zu erreichen, vergleichbar mit einem Flug zum Mond oder sogar Kriegen. RethinkX empfiehlt, dass sich die Regierung auf das Ziel einer 100-prozentigen SWB-Infrastruktur festlegen sollte, um den derzeitigen Strombedarf bis 2030 und das gesamte Energiesystem bis 2035 zu ersetzen.“ Entscheidend sei auch, so Seba, „Nothilfe und Unterstützung auf Menschen zu konzentrieren – und nicht auf Industrien. Man sollte Arbeitnehmer, die durch die Krise und die Disruption verdrängt werden, schützen, aber man sollte zulassen, dass Unternehmen und Organisationen, die mit fossilen Brennstoffen arbeiten, sich auflösen.“ 

Proteinerzeugung: Mikroben statt Tiere

Nahrung besteht aus Nährstoffen wie Proteinen, Fetten, Kohlenhydraten, Vitaminen und Mineralien. Fleisch wird überwiegend wegen der darin enthaltenen Proteine verzehrt. Die Domestizierung von Mikroorganismen ermöglicht es uns, die Tiere, die wir derzeit für die Proteinbereitstellung züchten, zu umgehen und direkt auf die einzelnen Nährstoffe zuzugreifen. Wir können ein verschwenderisch ineffizientes System, das riesige Mengen an Input benötigt und enorme Mengen an Abfall produziert, durch eines ersetzen, das präzise, gezielt und handhabbar ist.

Die dafür verwendete Technik nennt man Precision Fermentation (PF). Sie ermöglicht die Programmierung von Mikroorganismen zur Synthese einer Vielzahl komplizierter organischer Verbindungen. PF ist keine neue Technologie; sie hat ihre kommerziellen -Wurzeln bereits in den 1980er-Jahren. Wissenschaftler nutzten die Gentechnik, um Mikroorganismen für die Produktion von menschlichem Insulin, Wachstumshormonen und Enzymen zu modifizieren. Eine Reihe von Vitaminen und Ergänzungsmitteln wird fast ausschließlich mit PF produziert. Heute generieren diese Produkte weltweit jährliche Umsätze von mehr als 100 Milliarden US-Dollar.

Die Kosten für PF sinken rasch, weil die Kosten für Präzisionsbiologie zurückgehen. Deshalb ist der Preis für die Herstellung eines Kilos Protein von 1 Million US-Dollar/kg im Jahr 2000 auf heute etwa 100 US-Dollar/kg gefallen. Es wird erwartet, dass die Kosten bis 2025 unter 10 US-Dollar/kg liegen. Das entspricht dem derzeitigen Preis für tierische Proteine. Das Ergebnis ist eine Effizienzverbesserung der aktuellen industriellen Nahrungsmittelproduktion um ein Vielfaches. Moderne Lebensmittel werden billiger sein als tierische Erzeugnisse und auch in jeder denkbaren Hinsicht überlegen – in Qualität, Geschmack, Struktur, Nährwert sowie in ihren Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft. 

Sobald sich PF durchsetzt, werden 2,7 Billionen Hektar Land frei, das aktuell für die Produktion von Nahrungsmitteln für Tiere genutzt wird. Das sind 80 % aller heute landwirtschaftlich genutzten Flächen und entspricht der Fläche von China, den USA und Australien zusammen. 15 bis 20 % der derzeitigen Treibhausgasemissionen werden durch die industrielle Viehzucht verursacht und entfallen damit künftig. 

Mit dem Ende der industriellen Viehzucht endet auch das unglaubliche Leid von 80 Milliarden sogenannter Nutztiere. Und wir profitieren auch gesundheitlich. Denn über 60 % aller Antibiotika werden derzeit an Tiere verabreicht und bereits heute sterben jährlich 1,3 Millionen Menschen an den Folgen von Keimresistenzen, so das britische Gesundheitsministerium. Die etablierte Fleischindustrie warnt vor den Gesundheitsgefahren der neuen Nahrungsmittel. Jedoch belegen erste Studien deren gesundheitliche Vorteile. 

Treibhauseffekt

Die Umbrüche in den Sektoren Energie, Transport und Ernährung führen zu einer weitgehenden Dekarbonisierung. Wir können dadurch bis 2035 oder 2040 klimaneutral werden. Und in der Folge sogar Netto-Null, weil wir so viel Land zurückbekommen, dass seine Bepflanzung CO2 aus der Atmosphäre binden kann. 

Die Organisation des Umbruchs

Jede frühere Zivilisation ist an den Grenzen ihrer Fähigkeit gescheitert, die Gesellschaft zu organisieren und die durch ihr Produktionssystem geschaffenen Probleme zu lösen. Das Organisationssystem umfasst sowohl die grundlegenden Überzeugungen, Institutionen und Belohnungssysteme, die optimale Entscheidungen in einer Gesellschaft ermöglichen, als auch die Strukturen, die deren Bevölkerung verwalten, kontrollieren, regieren und beeinflussen. Als diese Zivilisationen mit dem Zusammenbruch bedroht waren, blickten sie rückwärts und versuchten, ihre glorreichen Tage wiederzubeleben, indem sie ihr Produktionssystem flickten und ihr Organisationssystem verstärkten, statt sich anzupassen. Das Ergebnis war der Abstieg in ein dunkles Zeitalter. Die heutige Führungsschicht wiederholt diese Fehler.

Überlebt das die westliche Welt?

Die Wirtschaftssektoren, die seit dem 16. Jahrhundert Europa und Nordamerika zur Vorherrschaft verhalfen, werden in den 2020er-Jahren alle zusammenbrechen. Wir belasten die Zukunft, um die Gegenwart zu bezahlen. Dies sind Anzeichen dafür, dass die westliche Zivilisation ihre Grenzen erreicht und überschritten hat. Die Reaktion der heutigen Entscheidungsträger auf diese Herausforderungen – mehr Zentralisierung, mehr Abbau, mehr Ausbeutung, mehr Kompromisse bei der Umweltintegrität im Namen des Wettbewerbsvorteils und Wachstums – ist nicht weniger verzweifelt als die Reaktion früherer Zivilisationen, die mehr Mauern, mehr Priester und mehr Blutopfer forderten, als sie dem Zusammenbruch gegenüberstanden.

Tony Seba fordert zu kritischem Hinterfragen scheinbar vorgegebener Strukturen auf: Ein solcher Schritt wird nicht leicht sein – wir müssen nicht nur die Strukturen und Institutionen, die die Gesellschaft verwalten, neu überdenken, sondern auch die grundlegenden Konzepte, auf denen sie basieren. Repräsentative Demokratie, Kapitalismus und -Nationalstaaten mögen wie fundamentale Wahrheiten erscheinen. Sie sind aber in Wirklichkeit nur menschliche Konstrukte, die in einem industriellen Organisationssystem entstanden und sich entwickelt haben. Im neuen Zeitalter könnten sie durchaus überflüssig werden.

letzte Änderung: 24.01.2024