Die Bundesregierung plant, Deutschland bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu machen. Die Wissenschaft, das Paris-Abkommen und Klimaaktivisten fordern jedoch, dass die Klimaneutralität bis zum Jahr 2030 oder 2035 erreicht werden müsse. Können wir das schaffen?
Klimaneutral bis 2035: Illusion oder Möglichkeit?
Die Bundesregierung plant, Deutschland bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu machen. Die Wissenschaft, das Paris-Abkommen und Klimaaktivisten fordern jedoch, dass die Klimaneutralität bis zum Jahr 2030 oder 2035 erreicht werden müsse. Können wir das schaffen?
Von Dr. Aribert Peters
(16. Februar 2021) Eine globale Erwärmung über zwei Grad hätte weltweit verheerende Folgen – sagt die Wissenschaft. Um das zu verhindern, müssen wir innerhalb des kommenden Jahrzehnts etwas hinbekommen, was es in der Geschichte noch nie gegeben hat: Unser Leben und unsere Gesellschaft vollkommen verändern. Es ist nicht egal, ob wir bis 2050 klimaneutral werden, wie es die Regierung plant, oder schon 2035. Die allermeisten Wissenschaftler sind davon überzeugt, dass es für die Menschheit einen fundamentalen Unterschied ausmacht: Nämlich den zwischen Leben und Sterben. Ausschlaggebend sind die sogenannten „Kipppunkte“ des Klimas – überschreiten wir diese Punkte, kippt das System für immer. „Das kommende Jahrzehnt wird das entscheidende sein für die Zukunft der Menschen auf der Erde“, meint der schwedische Klimaforscher Johan Rockström.
Genügend Sonnenenergie
Klimaneutralität bedeutet, dass Fossilenergien durch Erneuerbare ersetzt werden. Das ist selbst für Deutschland möglich, wie jeder selbst einfach nachvollziehen kann: Die Sonne schickt auf jeden Quadratmeter Deutschlands jährlich rund 1.000 kWh, den Energieinhalt von rund 100 Litern Öl. Das sind 350.000 TWh, weil Deutschland 350.000 Quadratkilometer groß ist. Der gesamte Energieverbrauch Deutschlands (Primärenergie), nicht nur Strom, liegt bei jährlich etwa 3.500 TWh. Also schickt die Sonne uns hundertmal mehr Energie als wir benötigen. Statt wie derzeit 70 Prozent unseres Energieverbrauchs zu importieren, könnten wir auf einem Bruchteil der Fläche Deutschlands unseren gesamten Energieverbrauch vollkommen klimaneutral decken. Und das wäre sogar kostengünstiger als die Verbrennung fossiler Energien. Es ist in vielen hundert Studien genau durchgerechnet worden, dass dies möglich ist und wie das im Detail aussieht: Für den Verkehr, für die Gebäude, für die Industrie, für das Gesamtsystem. Selbst im Winter und nachts, wenn die Sonne nicht scheint, wird bei kluger Organisation genug Energie zur Verfügung stehen. „Knapp sind nicht die erneuerbaren Energien, knapp ist die Zeit“, schrieb Hermann Scheer, Solarvisionär und Träger des Alternativen Nobelpreises.
Sachverständigenrat für Umweltfragen
Der Weltklimarat IPCC hat aufgezeigt, dass zwischen den aufsummierten menschenverursachten CO2-Emissionen und der weltweiten Temperaturerhöhung ein direkter Zusammenhang besteht. Um den für die vergangenen Jahrzehnte gemessenen raschen Anstieg der Erdtemperatur zu stoppen, müssen auch diese CO2-Emissionen ein Ende finden. Damit die in Paris vereinbarten Grenzen der Erwärmung eingehalten werden, dürfen nach Berechnungen des IPCC weltweit seit 2018 nur noch 580 Gigatonnen CO2 emittiert werden.
Der von der Bundesregierung eingesetzte Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) hat in seinem im Mai 2020 veröffentlichten Jahresgutachten errechnet, dass für Deutschland ab dem Jahr 2020 nur ein Restbudget von 4,2 Gigatonnen CO2 verbleibt, wenn man die weltweit zulässigen Emissionen gleichmäßig auf die Weltbevölkerung verteilt. Würde man berücksichtigen, dass Deutschland in der Vergangenheit schon weit mehr CO2 als andere Staaten emittiert hat, dann stünden Deutschland gar keine Emissionen mehr zu.
Bei unveränderten CO2-Emissionen von jährlich 0,7 Gigatonnen ist, so der SRU, das deutsche Emissionsbudget bereits im Jahr 2026 aufgebraucht. Der SRU empfiehlt, den zügigen Ausbau erneuerbarer Energien, um aus den Fossilenergien schnell genug aussteigen zu können, Verbrauchssenkung und Effizienzerhöhung bei einem gleichzeitigen Verzicht auf Atomenergie sowie auf die CO2-Abscheidung bei Kraftwerken (CCS).
Politisches Handeln: Ungenügend
Die Klimapolitik der Bundesregierung kommt bei den Umweltsachverständigen schlecht weg: „Die deutschen Klimaschutzziele reichen nicht aus, um das Pariser Klimaabkommen zu erfüllen.“ Einerseits seien die Klimaschutzziele zu wenig ambitioniert, um die Pariser Klimaschutzziele zu erreichen (Ambitionslücke) und andererseits werden selbst die wenig ambitionierten Ziele verfehlt (Umsetzungslücke).
Die Sachverständigen empfehlen: „Die Umsetzungslücke zwischen bestehenden Klimazielen und der Emissionsentwicklung sollte zügig geschlossen werden. Und das Ambitionsniveau der deutschen Klimaschutzziele sollte neu beurteilt und erhöht werden, um es an die aus dem Pariser Klimaschutzabkommen folgenden Notwendigkeiten anzupassen.“ Darin sind sich die offiziellen Umweltsachverständigen der Bundesregierung und die meisten Klimaaktivisten einig.
FFF-Wuppertal-Studie
„Klimaneutralität bis 2035 ist für Deutschland tatsächlich erreichbar. Zumindest technisch und ökonomisch betrachtet. Die dafür notwendigen Veränderungen in Politik und Gesellschaft sind massiv. Ein außerordentlicher politischer Gestaltungswille ist deshalb unabdingbar.“ Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Wuppertal Instituts vom Oktober 2020 für die Fridays-for-Future-Bewegung. Schon der Titel verrät, worum es geht: „Eckpunkte eines deutschen Beitrags zur Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze“.
Methodisch gesehen hat das Wuppertal Institut zahlreiche der bisher vorliegenden Studien daraufhin untersucht, ob sich die bis 2050 möglichen Umstellungen auch bereits bis 2030 oder 2035 erreichen lassen.
Die von der Studie abgeleiteten Maßnahmen erfordern eine doppelt so hohe Zu- beziehungsweise Umbaurate wie derzeit von der Regierung realisiert. Diese erhöhte Geschwindigkeit wird angesichts von Planungszeiten, der Erneuerungszyklen und Technologieentwicklung laut Studie nicht in allen Fällen realisierbar sein. „Für einen derart schnellen Umbau großer Teile des Wirtschaftssystems gibt es bisher kein Beispiel“, so die Studie. Diese Transformation erfordert nicht nur ambitionierte, sondern teils radikale strukturelle Veränderungen.
Die Studie entwickelt jedoch kein in sich konsistentes Szenario für das Jahr 2035, denn dies bleibe künftigen Untersuchungen vorbehalten. Allerdings: „Die Analysen der Studie legen nahe, dass das Erreichen von CO2-Neutralität bis zum Jahr 2035 aus technischer und ökonomischer Sicht zwar extrem anspruchsvoll wäre, grundsätzlich aber möglich ist.“ Ob die massiven Herausforderungen und strukturellen Veränderungen der notwendigen „Großen Transformation“ realisierbar sind, hängt von der gesellschaftlichen und politischen Bereitschaft zur massiven Veränderung ab. „Ist diese gegeben, so stehen der Zielerreichung keine unüberwindlichen Hindernisse entgegen.“ Erforderlich sind laut der Studie tiefgehende und komplexe Umstrukturierungen hin zu nachhaltigem Konsum, Kreislaufwirtschaft und Suffizienzstrategien. Im November 2020 wurde darüber hinaus eine weitere Studie unter dem Titel „Klimaneutrales Deutschland“ von Prognos, dem Öko-Institut und dem Wuppertal Institut veröffentlicht.
Video: “Der Weg zu 1,5 Grad”? – Vorstellung & Diskussion der 1,5°C-Studie des Wuppertal Instituts für FFF
Handbuch Klimaschutz
Mit dem gleichen Ansatz hat ein anderes Forscherteam unter der Leitung von Karl-Martin Hentschel in einer umfangreichen Untersuchung mehr als 300 Studien zur Klimaneutralität ausgewertet und in verständlicher Form zusammengefasst. Auftraggeber war der Verein „Mehr Demokratie“ und das Bürgerbegehren Klimaschutz. Das daraus entstandene „Handbuch Klimaschutz“ fasst die zentralen wissenschaftlichen Ergebnisse der bisherigen Klimaforschung zusammen und ist als Faktengrundlage für den gerade gestarteten deutschlandweiten Klima-Bürgerrat nach dem Vorbild Frankreichs geplant.
Selbst rechnen
Wer sich seine eigene Energiewende rechnen will, wird im Internet mit Programmen und Daten unterstützt. Zu nennen ist das Agorameter und die Energy-Charts (energy-charts.info) des Fraunhofer-Instituts.
Effizienz und Suffizienz
Der Energieverbrauch kann durch Einsparungen und Änderung des Verbrauchsverhaltens (Suffizienz) beträchtlich verringert werden. Die meisten Studien rechnen mit einer Einsparung von 30 Prozent bis zum Jahr 2030 und von 50 Prozent bis zum Jahr 2050. Die Energiewende beendet somit die enorme Energieverschwendung durch Großkraftwerke, schlecht gedämmte Häuser und große ineffiziente Verbrennungsautos und die intelligente Gestaltung der künftigen Energieversorgung spart gewaltige Energiemengen ein. Der Schüssel zum Erfolg ist die unterschiedliche Wertigkeit von Energie – die Exergie. Gerade beim Transport der Energie in Zeit und Raum – zwischen Regionen, Tagen und Jahreszeiten – kommt es auf sparsame und kluge Lösungen an:
Stromerzeugung als Schlüssel
Die meisten CO2-Emissionen entstehen bei der Stromerzeugung: derzeit rund 30 Prozent. Die Stromerzeugung steht deshalb im Zentrum aller Studien. Es geht an dieser Stelle um eine schnelle Umstellung der Stromerzeugung von gegenwärtig 52 Prozent auf 100 Prozent erneuerbare Energien bis zum Jahr 2035. Die Klimaneutralität des Verkehrs- und Gebäudesektors basiert wiederum wesentlich auf der Nutzung umweltfreundlich erzeugten Stroms. Zusätzlich rechnen alle Prognosen mit Wasserstoff und E-Fuels, die aus erneuerbarem Strom erzeugt werden. Dadurch steigt der künftige Stromverbrauch deutlich an. Alle Studien gehen deshalb von einem gewaltigen Ausbau der erneuerbaren Stromerzeugung aus. Für ein klimaneutrales Deutschland wäre laut vieler Studien eine erneuerbare Kapazität zwischen 500 und 700 GW notwendig, wenn größere Energieimporte ausscheiden. Im Minimum brauchen wir 300 GW an erneuerbaren Stromerzeugungskapazitäten. 110 GW davon waren bis zum Jahr 2019 installiert. Laut Wuppertal-Studie müssten jetzt Windkraft- und Photovoltaik-Anlagen in einer Größenordnung von 25 bis 40 GW pro Jahr neu gebaut werden. Die Realität bleibt weit dahinter zurück: Der Windstromzubau müsste sich dazu vervierfachen, der Solarstromzubau verachtfachen.
Selbst ein minimal erforderlicher Zubau von jährlich 15 GW liegt deutlich über den derzeitigen Ausbauzielen und erst recht über den tatsächlichen Zubauraten von 2,8 GW Wind und 4,6 GW PV zwischen 2018 und 2019. Allerdings wurden in der Vergangenheit in Spitzenjahren bereits Zubauraten von 8 GW bei PV (2012) und von 2.000 Windkrafträdern mit insgesamt 5 GW bei Onshore-Wind (2017) und von über 2 GW bei Offshore-Wind (2015) erreicht – seither wurden allerdings die Rahmenbedingungen verschlechtert. Selbst das im Dezember 2020 novellierte Erneuerbare-Energien-Gesetz belastet den Neubau von Solaranlagen mit einer Umlage, um genau solche Anlagen zu fördern: Grotesker kann Politik nicht zeigen, wie viel Angst sie vor Solar- und Windkraftanlagen hat und in wessen Interesse sie agiert. Die rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Strommarkts müssen grundlegend geändert werden, um erneuerbare Stromerzeugungsanlagen schnell neu entstehen zu lassen.
Fünf Jahre Paris: Digitaler Klimagipfel
Ein virtueller Gipfel am 12. Dezember 2020 ersetzte das ursprünglich für November 2020 geplante und wegen Corona verschobene Treffen der Vertragsstaaten der Klimarahmenkonvention „COP 26“ im schottischen Glasgow. Eingeladen zu dem virtuellen Treffen waren nur Länderchefs, die anspruchsvolle Ambitionen im Gepäck hatten. Im Internet kann man alle Reden des Treffens ansehen. Es sind bewegende Bekenntnisse von Staatschefs, Firmenchefs und der Führer der Zivilgesellschaft. Darunter sind Prinz Charles, der Papst und Xi Jinping – Trump, Putin, Erdogan und Bolsonaro glänzten durch Abwesenheit. Die Dringlichkeit und die Gemeinsamkeit aller Länder und aller Akteure kommt in jedem Statement zum Ausdruck und signalisiert einen globalen Wandel in den Überzeugungen der Menschen, die diese Welt lenken.
Der UN-Generalsekretär António Guterres sparte nicht an deutlichen Worten in seiner Begrüßungsansprache: „Auch fünf Jahre nach Paris bewegen wir uns immer noch nicht in die richtige Richtung“. Die damals abgegebenen Versprechen seien nicht genug und sie würden bislang nicht einmal ausreichend umgesetzt. Wenn man den Kurs nicht ändere, steuere man bis Ende des Jahrhunderts auf eine Temperaturerhöhung von über drei Grad zu.
China machte die Zusage, bis zum Jahr 2030 Solar- und Windkraftanlagen im Umfang von 1.200 Gigawatt zu errichten. Zum Vergleich: In Deutschland sind derzeit erneuerbare Kapazitäten von 110 GW installiert. Finnland will bis zum Jahr 2035 klimaneutral sein, Dänemark bis zum Jahr 2030 seine Emissionen um 70 Prozent reduzieren, die EU um 55 Prozent.
Global update: Paris Agreement Turning Point: bdev.de/climateactiontrack
Wer soll das bezahlen?
Strom aus neu errichteten PV- und Windkraftanlagen ist schon heute günstiger als aus fossilen oder atomaren Anlagen – selbst, wenn diese alt und längst abgeschrieben sind. Der Ausbau der Erneuerbaren ist also ein höchst rentables Investment. Etliche Studien belegen die wirtschaftlichen Vorteile des Wandels. Nur die Eigentümer der bisherigen Kraftwerke und die mit ihnen verbundenen Lobbyisten und Politiker wehren sich gegen den Wandel, versuchen ihn aufzuhalten und schlechtzureden, wie Peter Becker in seinem neusten und umfangreich recherchierten Buch „Vom Stromkartell zur Energiewende: Aufstieg und Krise der deutschen Stromkonzerne“ zeigt.
Eine Studie der Universität Berkeley in Kalifornien vom Juni 2020 hat gezeigt, dass die Preise für eine Stromerzeugung aus Wind und Sonne unter Nutzung von Batteriespeichern in den vergangenen 5 bis 10 Jahren so stark gesunken sind, dass bereits bis 2035 die US-Stromerzeugung zu 90 Prozent auf saubere Energien umgestellt werden kann, ohne dass dies Mehrkosten verursachen würde. Im Gegenteil: Der erneuerbare Strom wäre sogar 10 Prozent günstiger als fossil erzeugter Strom. Die Erzeugungskosten der Erneuerbaren lagen in dieser Betrachtung mit 4,6 US-Cent/kWh unter den Kosten konventioneller Erzeugung von 5,1 US-Cent/kWh. Jährlich müssten dazu in den USA 70 GW an neuer erneuerbarer Kapazität errichtet werden. Es würden zudem auf Dauer 1,8 Millionen neue Arbeitsplätze entstehen und ein Wirtschaftswachstum von 1.700 Milliarden US-Dollar generieren. Der Bericht zeigt erstmalig, dass es billiger ist, das Klima zu retten, als es zu zerstören. Ähnliche Studien gibt es von der finnischen LTU-Universität für Europa und die ganze Welt.
Auch das bereits genannte Handbuch Klimaschutz bezeichnet die 1,5-Grad-Umstellung als rentable Investition (S. 47). Das Fraunhofer IWES hat 2014 in einer Studie die Energiewende durchgerechnet und als eine risikoarme Investition mit einer positiven Gewinnerwartung bezeichnet, die zu großen Gewinnen von 4 bis 7 Prozent jährlich führt.
Greta ‘Fridays for future’ – one more KEY POINT : bdev.de/rencheap
Was geht uns das an?
Der SRU äußerte sich zum notwendigen Politikwandel und zur anstehenden Bundestagswahl im Herbst 2021 wie folgt: „Trotz einer Vielzahl an Einzelmaßnahmen und Erfolgen in Teilbereichen addiert sich die Nachhaltigkeitsstrategie insgesamt nicht zu den notwendigen Veränderungen auf. Aus diesem Grund ist eine neue Qualität in der Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik notwendig. Dazu benötigt die deutsche Nachhaltigkeitspolitik trotz bereits erzielter Fortschritte in zahlreichen Bereichen einen Neustart“. Der Journalist Michael Bauchmüller kommentierte am 15. Dezember 2020 in der Süddeutschen Zeitung die Regierungspolitik: „Wenn nichts geschieht, wird das nächste Jahrzehnt nicht die Dekade des Aufbruchs, sondern des Hinterherrennens“.
Am 26. September 2021 wählt Deutschland einen neuen Bundestag. Und der wird die Weichen neu stellen. In welche Richtung – das liegt an uns! Wir haben eine Wahl, eine Klimawahl. Wir sollten schon jetzt durch Briefe an die Parteien und bisherigen Abgeordneten klarmachen, was wir erwarten und anhand der Positionierung der Kandidaten und Parteien wiederum entscheiden, welche Wahl wir treffen. www.klimawahlen.de
Kurze Antworten auf große Fragen
In seinem letzten Buch „Kurze Antworten auf große Fragen“ brachte Stephen Hawking das wissenschaftlich-politische Dilemma um den Klimawandel wie folgt auf den Punkt:
„Die größte Bedrohung für unseren Planeten wäre vermutlich der Zusammenstoß mit einem Asteroiden, aber die letzte Kollision fand vor 66 Millionen Jahren statt. Sie löschte die Dinosaurier aus. Eine deutlich akutere Gefahr für die Menschheit ist der Klimawandel, der aus dem Ruder läuft. Ein Anstieg der Meerestemperatur würde die Polareiskappen abschmelzen und die Freisetzung großer Mengen von Kohlendioxid verursachen. Beide Prozesse könnten dazu führen, dass wir ein Klima wie auf der Venus mit einer Temperatur von weit über 250 Grad bekommen.
Gleichzeitig leugnen viele Politiker die Realität eines von Menschen verursachten Klimawandels – oder jedenfalls die Fähigkeit des Menschen, ihn aufzuhalten, und das genau zur selben Zeit, da unsere Welt mit mehreren höchst bedrohlichen Umweltkrisen konfrontiert ist. Die akute Gefahr besteht, dass die Globalerwärmung selbst erhaltend wird, wenn das nicht schon eingetreten ist. Das Abschmelzen der Eiskappen in der Arktis und Antarktis reduziert den Anteil an Sonnenenergie, der in den Weltraum zurückgestrahlt wird, und erhöht damit die Temperatur noch weiter. Der Klimawandel vernichtet mutmaßlich den Regenwald im Amazonasgebiet und andere Regenwälder, womit einer der wichtigsten natürlichen Prozesse verschwindet, durch den Kohlendioxid aus der Atmosphäre beseitigt wird. Der Anstieg der Meerestemperatur könnte große Mengen Kohlendioxid freisetzen. Beide Phänomene würden den Treibhauseffekt und damit die globale Erwärmung insgesamt verstärken. Menschliches Leben wäre nicht mehr möglich. Mit unserer Zukunft auf dem Planeten Erde gehen wir nach meiner Überzeugung mit unverantwortlicher Gleichgültigkeit um.“
Freier Fall in die Zukunft
2030 fahren wir zu 100 Prozent elektrisch und erzeugen die Energie zu 100 Prozent solar. Autos fahren ohne Fahrer, privater Autobesitz ist sinnlos. Parkplätze werden kaum mehr gebraucht. Und es gibt keine Staus mehr. Behauptet Tony Seba und führt gute Gründe dafür an.
(23. Juni 2016) In 15 Jahren, so Seba, wird der Transport- und Energiesektor dem, was wir heute kennen, nicht mehr ähneln. Tony Seba ist Dozent in Stanford (USA). 2014 erschien sein Buch „Clean Disruption“ und auf einem Vortrag auf der AltCar Expo 2014 hat er seine Thesen erläutert. Der Vortrag steht auf Youtube zur Verfügung. Wir geben seine Argumente in Kurzform hier wieder. Denn sie können unser Denken über die Zukunft grundlegend verändern.
Tony Seba ist Unternehmensberater und Dozent in Stanford (USA).
Seba erzählt eine Geschichte vom Anfang des vorigen Jahrhunderts: Noch im Jahr 1900 gab es in New York kaum Autos, im Jahr 1913 gab es kaum noch Pferdekutschen. In nur 13 Jahren verschwand das Pferd als Transportmittel völlig von den Straßen. Ein solcher radikaler Wandel – Disruption genannt – ereignet sich immer dann, wenn sich technologiebestimmende Faktoren dramatisch ändern. Dann entstehen neue Märkte, bisherige Produkte verschwinden und werden in kurzer Zeit völlig vergessen. So wie kürzlich die analoge Fotografie, Schreibmaschinen, VHS-Kassetten und Schallplatten.
Es gibt drei Hauptfelder der technologischen Entwicklung, in denen sich Disruptionen gerade abzeichnen oder schon vollziehen:
- Elektroautos
- Autonome Fahrzeuge
- Solarenergie
Trend 1: Elektroautos
Fünf Gründe, warum ein Elektroauto disruptiv ist:
- Elektromotoren sind fünf mal energieeffizienter als Verbrennungsmotoren.
- Die Verbrauchskosten von Elektroautos sind zehn mal geringer als die von Verbrennern (in den USA).
- Die Wartungskosten von Elektroautos sind fünf- bis zehnmal geringer als die von Verbrennern.
- Induktionsladung ermöglicht ein kabelloses Aufladen.
- Elektromotoren sind viel kraftvoller als Verbrennungsmotoren.
Eine Achillesferse der Elektroautos ist die Reichweite und damit zusammenhängend die Batterietechnik. Seit 2010 haben sich die Batteriekosten stetig um rund 16 Prozent pro Jahr reduziert. Der Preisverfall ist also exponentiell.
Die Firma Tesla errichtet derzeit in Nevada die sogenannte „GigaFactory“, das mit Abstand größte Gebäude der Welt und ein Produktionswerk für Batterien, das allein die Weltbatterieproduktion verdoppeln wird. Die Kosten für ein Elektroauto-Batteriepack werden sich dadurch um mehr als 30 Prozent reduzieren. Dabei sind noch keine Technologiedurchbrüche eingerechnet, sondern lediglich der Ausbau der Fertigungskapazität von Li-Ion-Zellen.
In den Jahren 2017 bis 2018 wird die Industrie in der Lage sein, Elektroautos mit 320 Kilometern Reichweite zu bauen, die nicht mehr als 40.000 Dollar kosten. Diese Elektroautos werden die Performance eines Porsche 911 Carrera in die Mittelklasse bringen. Wenn diese Fahrzeuge im Markt auftauchen, wird es unmöglich sein, noch Verbrenner dieser Preisklasse zu verkaufen. Im Jahr 2020, wird die Industrie solche Elektroautos für 31.000 Dollar verkaufen können. Das ist der Durchschnittspreis eines Verbrenners in Amerika.
Nochmal zwei bis drei Jahre später, 2023, wird man in der Lage sein, Elektroautos mit dieser Performance und Reichweite für nur noch 22.000 Dollar anzubieten. Das ist der Einstiegspreis von Verbrennern in den USA.
Das heißt: In den nächsten acht bis zehn Jahren wird die Elektroautoindustrie den Verbrennermarkt verdrängen.
- Die massenhafte Migration von Verbrennern zu Elektroautos wird 2017/2018 beginnen.
- Ab 2030 werden neue Autos fast ausschließlich Elektroautos sein.
- Öl als Treibstoff für Fahrzeuge wird ab 2030 obsolet sein.
Trend 2: Autonome Fahrzeuge
Es existieren bereits Technologien für autonomes und halbautonomes Fahren; sie sind in Oberklassefahrzeugen schon längst im Einsatz und dringen derzeit in das mittlere und untere Preissegment vor: Intelligente Fahr-Assistenz-Systeme wie Parkassistenten, ein adaptiver Tempomat, Spur- und Bremsassistenten sind bereits heute in allen Klassen verfügbar. Dieser Entwicklungsprozess ist schon eine ganze Weile im Gange. Prototypen vollkommen autonom fahrender Autos sind in den USA bereits seit Jahren im Testbetrieb.
Der exponentielle Preisverfall von automatischen Systemen ähnelt dem für die Batterien von Elektroautos. Selbstfahrende Elektrofahrzeuge muss man sich im wesentlichen als Computer auf Rädern vorstellen. Sie machen rasante Fortschritte und werden sehr schnell immer billiger.
Platz- und Zeitverschwendung: Autobahnen und Staus
Zu jedem beliebigem Zeitpunkt werden bestenfalls fünf Prozent der Straßenfläche vom fahrenden Verkehr genutzt – 95 Prozent liegen praktisch brach, weil wir keine guten Fahrer sind. Unsere Geschwindigkeit sowie unsere Abstände sind unangepasst und suboptimal.
Allein durch den Einsatz adaptiver Tempomaten (Adaptive Cruise Control – ACC) ließe sich die Autobahnkapazität um 40 Prozent erhöhen. Es könnten also fast doppelt so viele Autos zur gleichen Zeit unterwegs sein, ohne Stau.
Durch ACC und Fahrzeugkommunikation (Autos teilen ihren Status anderen Autos in der Nähe mit) wäre sogar eine Steigerung der Autobahnkapazität um 273 Prozent möglich. Autonome Fahrzeuge verhindern Staus durch eine Vervielfachung der Autobahnkapazität: Zur gleichen Zeit können fast viermal mehr Fahrzeuge auf gleicher Fläche fahren.
Weitere Informationen
- Eine deutsche Fassung des Vortrags von Seba: Clean Disruption
- Buchhinweis: Tony Seba (Autor) | Clean Disruption of Energy and Transportation: How Silicon Valley Will Make Oil, Nuclear, Natural Gas, Coal, Electric Utilities and Conventional Cars Obsolete by 2030 | Englisch 290 Seiten | Tony Seba Verlag | Beta Auflage | 20. Mai 2014 Taschenbuch | ISBN-13: 978-0692210536 | 15,57 Euro
Autos – teure Rumsteher
Autos sind unser zweitgrößter Ausgabenposten. Die durchschnittlichen Anschaffungskosten betragen 31.000 Dollar, hinzu kommen Treibstoffkosten, Versicherungen, Wartung etc. Diese Autos stehen 96 Prozent der Zeit nur herum. Was für eine Verschwendung!
Autos als Dienstleistung – Das Ende des Autobesitzes
Die Kombination von Carsharing und selbstfahrenden Autos wird den Besitz von Autos überflüssig machen. Eigentlich brauchen wir auch keine Autos als solches. Was wir brauchen ist „Mobilität bei Bedarf”, zu einem fairen Preis. Und wenn wir diese Mobilität auf Kilometer-Basis abrechnen, kostet sie uns zehnmal weniger als der Besitz eines Autos.
Wenn wir ein Teilen-zu-Besitzen-Verhältnis von nur 5:1 annehmen (auf je 5 geteilte Autos kommt ein Besitzauto), würden wir 80 Prozent weniger Autos brauchen. Die Autoindustrie würde also statt 100 Millionen Autos jährlich nur noch 20 Millionen verkaufen. Übrigens werden dann auch 80 Prozent der heute existierenden Parkplätze nicht mehr benötigt. Stellen wir uns nur mal vor, was wir mit all dem Platz in unseren Städten anfangen könnten: Parks statt Parken!
Die Auswirkungen autonomer Fahrzeuge auf den Transportsektor sind sehr positiv: Mobilität als Service wird das Konzept des individuellen Fahrzeugbesitzes verändern, wodurch der Markt für Neufahrzeuge um 80 Prozent schrumpft und das bedeutet:
- Disruption der Automobilindustrie
- Disruption der Autoversicherungsbranche
- Disruption der Ölindustrie
Trend 3: Solarenergie
Seit 1970 hat sich der Preis für Photovoltaikmodule um den Faktor 154 verringert! Gleichzeitig ist zwischen 2000 und 2013 der solare PV-Markt weltweit um 43 Prozent pro Jahr gewachsen. Die installierte Kapazität hat sich in diesem Zeitraum verhundertfacht!
Wenn man also auf der einen Seite exponentiell fallende Kosten und auf der anderen Seite einen exponentiell wachsenden Markt hat, bewirkt das mit ziemlicher Sicherheit eine Disruption.
Wenn die aktuelle Wachstumsrate von 43 Prozent pro Jahr anhält, bedeutet das, dass wir im Jahr 2030 die gesamte weltweit benötigte Energie – nicht nur die Elektroenergie – solar erzeugen werden, zu 100 Prozent!
Die entscheidende Frage ist natürlich: Kann diese Wachstumsrate beibehalten werden? Seit 1970 haben sich die Preise für konventionelle Energieträger um den Faktor sechs bis 35 vervielfacht: Die Kosten für Photovoltaik haben sich zwischen 1970 und 2013 gegenüber denen konventioneller Energieträger relativ betrachtet wie folgt verbessert:
- gegenüber Öl um das 5.355-fache
- gegenüber Nuklearenergie um das 1.540-fache
- gegenüber Erdgas um das 2.275-fache
- gegenüber Kohle um das 900-fache
Und die Solarkosten werden weiter fallen, um weitere zwei Drittel bis 2020: Bis 2020 werden die Kosten für Solartechnologie seit 1970 um den Faktor 400 gesunken sein. 2020 werden die Kosten häuslicher PV-Anlagen rund 1,12 Dollar je Watt betragen. In Australien sind es bereits jetzt nur noch 1,5 Dollar/W.
Nachsatz
Derzeit wächst der Ölverbrauch weltweit unvermindert (siehe ED 02/16 Ölzeitalter zu Ende?). Welche Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft es haben könnte, wenn Öl knapp wird, bevor es überflüssig ist, darüber macht sich Tony Seba keine Gedanken.