ED 04/12 Eine Welt ohne Öl (S.30-31)

Energiepolitik am Scheidepunkt

»Die Revolution läuft!«

Warum Strommarktexperte Tim Meyer trotz aller Widerstände an den Erfolg der Energiewende glaubt
Von Volker Kühn

(7. November 2025) Tim Meyer zählt zu den gefragtesten Interviewpartnern, wenn es um die Energiewende und die Pläne von Schwarz-Rot geht. Hier erklärt der Strommarktexperte mit langjähriger Erfahrung in der Energiebranche, warum sich die globale Elektrifizierung aus seiner Sicht zwar bremsen, aber nicht umkehren lässt.

Herr Meyer, Sie haben Ihr aktuelles Buch schlicht »Strom« genannt – ganz so, als sei längst ausgemacht, dass wir uns künftig vor allem mit dieser Form der Energie versorgen. Die aktuelle Debatte klingt aber ganz anders. Ist die Sache wirklich schon durch?

Tim Meyer: Weltweit betrachtet gehe ich fest davon aus. In Deutschland machen wir allerdings gerade mal wieder eine Rolle rückwärts, ähnlich wie in den USA. Dabei ist das, was wir »Energiewende« nennen, in Wirklichkeit eine industrielle Revolution, und die läuft! Man kann sie nicht aufhalten, wie wir aus der Geschichte wissen. Man kann sie allenfalls verzögern. Aber auch das sollten wir nicht tun, denn es ist eine gute Revolution. Sie hilft uns, den Klimawandel zu begrenzen, und bringt gewaltige Chancen für die Gesellschaft und Unternehmen mit sich. In der Bundesregierung scheint das allerdings noch nicht angekommen zu sein.

Was macht Sie so sicher, dass erneuerbare und nicht fossile Rohstoffe das Rennen machen?

Tim Meyer: Die unglaubliche Dynamik, mit der sich saubere Technologien weltweit verbreiten. Noch nie in der Geschichte der Menschheit ist eine Energiequelle so rasant gewachsen wie die Solar- und Windenergie. Und bei den Batterien geht es mit dem Preisverfall sogar noch schneller. Vor  Jahren wäre man für verrückt erklärt worden, wenn man prophezeit hätte, in welchem Ausmaß Batterien heute schon eingesetzt werden, um Schwankungen der Wind- und Solarenergie auszugleichen.

Aber haben Öl und Gas nicht die mächtigeren Lobbys?

Tim Meyer: Die Lobbys sind ohne Zweifel stark. Das sieht man schon daran, wie sie uns seit Jahrzehnten mit Desinformation überschütten. Der Internationale Währungsfonds – der ja nicht gerade als Öko-Thinktank gilt – hat ausgerechnet, dass weltweit jährlich sieben Billionen US-Dollar an Subventionen in fossile Energien fließen. Sieben Billionen! Doch noch nicht einmal diese gigantische Marktverzerrung zugunsten fossiler Energie kann die weltweite Energiewende aufhalten. Ich glaube nicht, dass es Trump gelingen wird, die Wende zurück ins fossile Zeitalter komplett durchzuziehen.

Woher kommt die enge Verbindung von Populisten und fossilen Energien?

Tim Meyer: Wer das genau verstehen möchte, dem empfehle ich das Buch »Männer, die die Welt verbrennen«. Darin hat Christian Stöcker auf sehr präzise Weise herausgearbeitet, wie ultrareiche Unternehmer aus den fossilen Energien jahrzehntelang mit viel Geld Falschinformationen in die Welt gesetzt, Politiker und Wissenschaftler gekauft und die Energiewende diskreditiert haben.

Dass die Öl- und Gasindustrie die Energiewende ablehnt, ist nicht überraschend. Aber es beschränkt sich nicht auf Populisten und Superreiche. Die Skepsis reicht bis in konservative Kreise, denen man nicht einfach finstere Motive unterstellen kann. Woran liegt das?

Tim Meyer: Einerseits glaube ich, dass die Veränderung so schnell geht, dass auch viele Entscheider in Politik und Wirtschaft sie noch nicht mitbekommen haben. Wer vor zwanzig oder vor zehn Jahren energiepolitisch sozialisiert wurde, hat vieles, was seither möglich geworden ist, nicht gelernt. Wir Menschen tun uns nun mal schwer damit, exponentielle Entwicklungen zu verstehen.

Und andererseits?

Tim Meyer: ... ist es auch eine Frage der politischen Agenda. Es ist der Wunsch, sich vom politischen Gegner abzusetzen. Wer im Wahlkampf aufs Schärfste gegen alles vermeintlich Grüne zu Felde gezogen ist, kann nun nicht einfach zugeben, dass manches davon richtig war.

Energiepolitik am Scheidepunkt

Der Ökostromausbau muss effizienter werden, aber hoch bleiben, fordert ein Bericht des Wirtschaftsministeriums. Doch dort interpretiert man die Ergebnisse anders. Wir die Energiewende jetzt ausgebremst?
Von Volker Kühn

(3. November 2025) Wie viel Strom verbraucht Deutschland in fünf Jahren? Wie viel in zehn und in 20 Jahren? Die Frage klingt akademisch, ist für die Energiepolitik aber zentral. Denn die Antwort entscheidet, in welchem Umfang Deutschland in erneuerbare Energien und die Stromnetze investieren muss, um seine gesetzlich festgelegten Klimaziele zu erreichen.

Für 2030 sieht das Gesetz einen Ökostromanteil von 80 Prozent vor. Fragt sich nur: 80 Prozent wovon? Die Ampelregierung war von einem Verbrauch von bis zu 750 Terawattstunden ausgegangen und hatte entsprechend hohe Ausbauziele für die Wind- und Solarenergie festgelegt. Schließlich sollte der Strom reichen für Millionen von E-Autos und Wärmepumpen, für die Produktion von Wasserstoff und den Ersatz von Kohle, Öl und Gas in der Industrie.

Doch die Elektrifizierung kommt nicht so schnell voran wie erwartet. Der Strombedarf ist in den vergangenen Jahren sogar gesunken, 2024 lag er bei knapp 520 Terawattstunden.

ED 03/2025 Energiepolitik am Scheidepunkt (S.18/19) 

Kohlekraftwerk und Windräder in Niedersachsen: Wohin steuert die deutsche Energiepolitik?

Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche hat daher ein »Monitoring« in Auftrag gegeben – eine Metaanalyse der vielen bereits vorliegenden Prognosen zum Strombedarf aus allen politischen Lagern. Dieses Monitoring sollte die Basis liefern für eine realistische Neubewertung der Energiewende. Und siehe da: Als die beauftragten Forschungsinstitute Mitte September das Ergebnis vorstellten, kamen sie auf einen Bedarf von 600 bis 700 Terawattstunden – mehr als aktuell, aber eben weniger als zuvor erwartet.

Der Stromverbrauch steigt – wenn auch langsamer als bislang vorhergesagt

Was folgt nun daraus? Darüber entbrannte schon während der Vorstellung des Monitorings eine Debatte. Der Ausbau der Erneuerbaren sei weiterhin in hohem Umfang notwendig, heißt es im Monitoring. Das Tempo dürfe nicht nachlassen, nur dann bestehe die Chance, das 80-Prozent-Ziel 2030 zu erreichen,  die Forscher in der Pressekonferenz. »Wir sagen, es braucht weiterhin signifikanten Zubau Erneuerbarer und signifikanten Zubau in den Netzen, aber wir müssen das alles ein bisschen intelligenter machen«, sagte Alexander Kox, Geschäftsführer des am Monitoring beteiligten Beratungsunternehmens BET.

»Der Ausbau der erneuerbaren Energieanlagen ist weiterhin in hohem Umfang notwendig, um die Klimaziele zu erreichen«
Monitoring des Bundeswirtschaftsministeriums

Katherina Reiche kam allerdings in derselben Pressekonferenz zu einer anderen Interpretation. Sie erklärte, die Energiewende stehe »am Scheidepunkt« und müsse »neu ausgerichtet « werden. Was das bedeutet, umriss sie in einem Zehn-Punkte-Plan. Er sieht unter anderem die Streichung der Einspeisevergütung für PV-Anlagen auf Privathäusern vor (mehr dazu „Berliner Sonnenfinsternis“). Schon zuvor hatte Kanzler Friedrich Merz erklärt, er vermute, »dass wir im Ausbau etwas weniger machen können«.

Die Kosten für den Netzausbau explodieren. Die Politik sucht ein Gegenmittel

Den angestrebten »Neustart der Energiewende« begründet Reiche vor allem mit den Kosten. Die Strompreise in Deutschland sind im internationalen Vergleich hoch, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft leidet, das Gespenst einer »Deindustrialisierung« macht die Runde. 

Schuld daran sind insbesondere Milliardeninvestitionen in den Netzausbau. Sie werden von den Verbrauchern über die Netzentgelte getragen; Rabatte und Ausnahmen gibt es für die energieintensive Industrie. Für Haushaltskunden haben sich die Netzentgelte von 2016 bis heute auf im Schnitt elf Cent pro Kilowattstunde fast verdoppelt. Und falls der Gesetzgeber nicht gegensteuert, werden sie weiter steigen. Die Netzbetreiber schätzen den Investitionsbedarf bis 2037 nach jüngsten Zahlen auf 440 Milliarden Euro, 36 Milliarden pro Jahr.

Aber was genau bedeutet gegensteuern? Welche Wege führen aus der Kostenfalle?

Reiches Antwort scheint klar: Wer weniger Erneuerbare baut, muss auch weniger Geld in die Netze stecken. Die gesenkte Strombedarfsprognose liefert ihr überdies eine plausible Begründung, um die Ziele zu kappen.

Ihre Kritiker halten genau das allerdings für fahrlässig, und das aus mehreren Gründen. Da sind zum einen die Klimaziele, die Deutschland gemäß nationaler Gesetze und internationaler Abkommen erreichen muss. Auch das Bundesverfassungsgericht schreibt einen wirksamen Klimaschutz vor. Dazu allerdings ist die möglichst rasche Elektrifizierung aller Sektoren nötig, und das wiederum funktioniert nur mit den nötigen Ökostrommengen.

Aber auch ökonomische Gründe sprechen gegen einen grundsätzlichen Kurswechsel. »Investitionen in Erneuerbare haben eine dreifache Dividende«, erklärt Bernd Weber, Gründer des CDU-nahen Thinktanks Epico: »Sie senken die Strom-Großhandelspreise, reduzieren die Emissionen und ermöglichen Elektrifizierung von Verkehr und Industrie.«

»Meine Vermutung ist, dass wir im Ausbau etwas weniger machen können«
Bundeskanzler Friedrich Merz

Die Elektrifizierung steht vor einem Kipppunkt. Plötzlich könnte es sehr schnell gehen

Um die Netzentgelte einzudämmen, empfiehlt Weber regionale Preissignale: Strom müsse dort günstig sein, wo er im Überschuss vorhanden ist. Die in diesem Kontext geforderte Aufteilung des Landes in mehrere Strompreiszonen hält er allerdings für politisch nicht durchsetzbar. Stattdessen plädiert er für eine umfassende Netzentgeltreform sowie den Bau von Speichern und Anreize für einen flexiblen Verbrauch. Beides bringe Angebot und Nachfrage zusammen und reduziere den Bedarf an neuen Netzen.

Ähnlich argumentiert der Strommarktexperte Tim Meyer (siehe Interview »Die Revolution läuft!«). Er verweist auf die gigantischen Zuwachsraten der globalen Solarenergie. Die Elektrifizierung stehe vor einem Kipppunkt. Niemand könne seriös abschätzen, wie groß der Strom- und Netzbedarf in 20 Jahren ist. Daher sei die Politik gut beraten, schrittweise vorzugehen. Auch bei den Gaskraftwerken, die Reiche als Ergänzung zum Ökostromausbau plant. Statt der geplanten 20 Gigawatt reichten zunächst vielleicht nur fünf. »Die Stromnetze in Deutschland entsprechen nicht mehr den Anforderungen eines modernen Industriestaats«, sagt Meyer. »Die Antwort darauf darf nicht sein, dass wir die Anforderungen herunterschrauben.«

letzte Änderung: 07.11.2025