Die Strippenzieher

In einem neuen atemberaubenden Buch analysieren die beiden Journalisten Cerstin Gammelin und Götz Hamann den Lobbyismus in Berlin. Die Energiedepesche zitiert einige Passagen und dankt den Autoren für die freundliche Genehmigung.

(3. Januar 2006) - "Drei Viertel der Deutschen glauben inzwischen, die Wirtschaft nehme von der Gesellschaft mehr, als sie ihr gebe. … Wahr an diesem Befund ist, dass mehr Lobbyisten als je zuvor die Regierung bestürmen. Wahr ist, dass sich die Kräfte in der Hauptstadt zu Gunsten der Wirtschaft verschoben haben. Wahr ist auch, dass die Administration, nämlich die Ministerialverwaltung und die Mitarbeiter der Abgeordneten, den professionellen Lobbys kaum mehr gewachsen ist, dass sich Teile des politischen Apparats bereits ergeben haben und zu einer Außenstelle von Konzernen und Verbänden geworden sind. Lobbyismus ist eine Macht, an der keiner in Berlin vorbeikommt.

Mehrere tausend Abgesandte und Dienstleister arbeiten dafür, die Interessen von Unternehmen und Verbänden durchzusetzen. Mehr als 1.886 Gruppen sind in der Lobby-Liste des Bundetags registriert. Sie haben damit offiziellen Zugang zum Bundestag - denn Hausausweise fürs Parlament sind inklusive. Sie alle verwandeln wirtschaftliche Macht in Einfluss, ohne ein politisches Mandat dafür zu besitzen.

Quick und dirty

Zu beobachten ist, dass die Interessen der Wirtschaft häufiger als in früheren Jahrzehnten mit denen der Gesellschaft gleichgesetzt werden. … Die Bundesregierung ringt um die Vorzüge und mit den Nachteilen des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Sie organisiert den Rückbau sozialer Sicherungssysteme und versucht die Gesundheitskosten zu senken. Wirtschafts- und sozialpolitische Themen beherrschen die Debatte. Weil umgekehrt die Erträge der Unternehmen von dem Ergebnis dieser Debatte abhängen, sucht die Wirtschaft nach Mitteln, um die Politik wirksam zu beeinflussen. Und je besser es gelingt, umso mehr verändert sich unser Land.


Der Öffentlichkeit legen die Interessenvertreter nur selten Rechenschaft über ihr Tun ab. Gerade für die Spitzenlobbyisten gilt: Gut ist, wer lautlos und effizient sein Ziel erreicht. Genial ist, wer es quick und dirty schafft, wem es egal sein kann, was die Öffentlichkeit davon hält.

TINA-Syndrom: Keine Alternativen?

Verstärkt wird dieser Eindruck durch eine geschickte, höchst erfolgreiche Medienarbeit vieler Lobbyisten. Sie schaffen es, die Interessen der Wirtschaft so flächendeckend in den Medien unterzubringen, dass bei einem Blick in die Zeitungen manchmal das TINA-Syndrom aufkommen könnte: There is no alternative - es gibt keine Alternative zu den Ansichten der Wirtschaft. Eindeutig ist nur: Kaum ein Gesetz tritt heute in Kraft, ohne dass ein Interessenvertreter daran mitgearbeitet hätte. Der Staat wird unterwandert oder sogar offen außer Kraft gesetzt, wenn Konzerne im Bundeswirtschaftsministerium die "inhaltliche Führung" übernehmen. Wenn Beamte und Minister vor allem dem Prinzip der Klientelpolitik folgen, egal ob davon Umweltorganisationen oder Energiekonzerne profitieren. Klientelpolitik mündet in eine nicht kontrollierbare und nicht transparente Verflechtung von Staat und Privatwirtschaft. Sie begünstigt Korruption. Sie zerstört den Staat.

Kohl und Schröder

Helmut Kohl vergaß niemals, wer ihn gefördert hatte, als er noch ein junger Landespolitiker war: der Chemiekonzern BASF in Ludwigshafen. Der Kanzler habe für die Interessen von BASF als Großverbraucher von Strom immer ein offenes Ohr gehabt, erinnert sich noch heute ein Lobbyist der Energieerzeuger, der anonym bleiben will. Sein Unternehmen dagegen habe unter Helmut Kohl keinen Fuß in die Tür des Kanzleramts bekommen. Das änderte sich nach der Bundestagswahl 1998. Schröder empfing die Energiefürsten mit offenen Armen. Schon als Ministerpräsident von Niedersachsen und Kanzlerkandidat gratulierte Schröder am 16. Mai 1998 im Hannoverschen Schloss Herrenhausen dem damaligen Preussen-Elektra-Chef und späteren E.ON-Energie-Lenker Hans-Dieter Harig zum 60. Geburtstag. Als eine neue Generation an die Spitze der Konzerne rückte, lud der Bundeskanzler die Vorstandschefs der vier großen Unternehmen zum Dinner ein. Zwecks Kennenlernen, ließ Schröder die Öffentlichkeit wissen. Dann plauderten der Kanzler, sein Büroleiter und der Wirtschaftsminister mit den Managern an einem lauen Augustabend des Jahres 2003 im Kanzleramt über Gott und die Welt. Nachgesagt wird dem SPD-Kanzler auch eine Duz-Freundschaft mit dem als öffentlichkeitsscheu bekannten Vorstandschef des größten deutschen Gasversorgers Ruhrgas, Burkhard Bergmann.

Spitzenjobs für Spitzenpolitiker

Zu einer wirklichen Gefahr für den Parlamentarismus können die Wechsel von Spitzenpolitikern auf Manager- und Vorstandsposten werden. Die hohe Schule der vorausschauenden Personalpolitik funktioniert, aus Konzernsicht und stark vereinfacht dargestellt, folgendermaßen: Diejenigen, die in der Bundes- oder Landespolitik hohe Ämter bekleideten, erfolgreich und loyal waren, haben gute Chancen auf wohl dotierte Anschlussjobs in Unternehmen.

Die gezielten Personalwechsel an den Schalthebeln von Politik und Wirtschaft zählen zu den effizientesten Formen der Beeinflussung. Verbraucherorganisationen werden solche Lobbyarbeit nicht leisten können. Dafür fehlt zweierlei: Finanzen und Einfluss.


Eine in der Bundesrepublik in jeder Hinsicht nahezu beispiellos effiziente Personalpolitik hat der Branchenprimus E.ON hingelegt.

Auch mit der regierenden SPD ist E.ON bestens vernetzt. Wertvolle Lobbydienste leistet hier der ehemalige Energiereferent der SPD-Bundestagsfraktion: Gert von der Groeben. Als von der Groeben nach dem Regierungswechsel 1998 nicht wie geplant eine leitende Position im Regierungsapparat bekam, offerierte E.ON dem Polittalent ein angemessenes Betätigungsfeld. Seitdem zieht er als Generalbevollmächtigter im Auftrag des Düsseldorfer Konzerns die Strippen, wenn es um heikle energiepolitische Vorhaben geht. Hilfreich ist ihm dabei das über Jahre gesponnene Netzwerk in die SPD-Fraktion hinein - und sein Wissen um die "Leichen" mancher Abgeordneter, wie sich einer von ihnen ausdrückt.

Sein größter Erfolg war es, dass das rotgrüne Gesetz zur Förderung der umweltfreundlichen Kraft-Wärme-Kopplung wesentlich entschärft wurde. Auch in der von Rotgrün inszenierten Energiemarktreform mischte von der Groeben mit. Er steht nicht nur mit dem Wirtschaftsministerium in Kontakt, sondern vertritt bei kleinen Gipfeln schon mal seinen jetzigen Vorstandschef Wulff Bernotat.

Die Hannover-Connection

Der spektakulärste Fall der jüngeren deutschen Industriegeschichte fand in den Jahren 2002 und 2003 statt: Bundeswirtschaftsminister Werner Müller und sein Staatssekretär Alfred Tacke erteilten eine Ministererlaubnis zur Fusion des größten deutschen Stromkonzerns mit dem größten deutschen Gaskonzern - und kurze Zeit später wechselten die beiden auf die Vorstandsstühle von Beteiligungen der begünstigten Konzerne.

Das Bundeskartellamt befürchtete für Deutschland "eine wettbewerbsabträgliche marktbeherrschende Stellung" und verbot die Fusion. Selbst die vierköpfige Monopolkommission votierte dagegen. Der Widerstand hätte wohl jeden Manager dazu bewogen, sein Vorhaben aufzugeben. Nicht so Ulrich Hartmann. Lange bevor das Vorhaben an die Öffentlichkeit drang, hatte der E.ON-Chef die Chancen auf Erfolg sorgfältig abgeklopft. Er wusste: Die definitive Entscheidung lag bei der Bundesregierung. Oder, genauer gesagt, beim Wirtschaftsminister. Dieser hatte die Möglichkeit, per Ministererlaubnis alle anderen Vetos außer Kraft zu setzen - falls er überragende Gemeinwohlinteressen feststellen sollte. Und diese Gemeinwohlinteressen wurde Hartmann nicht müde zu predigen.

Für ein symbolisches Honorar von einer Mark pro Monat beriet der spätere Wirtschaftsminister Müller den damaligen Ministerpräsidenten Schröder bei den Energiekonsens-Gesprächen. Schröders Energiepolitik werde wohl nun in der Vorstandsetage der Veba entwickelt, kommentierte Jürgen Trittin, seinerzeit Minister für Bundes- und Europa-Angelegenheiten in Niedersachsen und später Müllers Gegenpart im Bundeskabinett Schröder.

Wirtschaftsminister Werner Müller, dem langjährigen Energiemanager eines E.ON-Vorgängerunternehmens und überraschenden Politik-Quereinsteiger, wurde öffentlich massive Befangenheit vorgeworfen. "Nach langem Zögern", erinnert man sich bei E.ON, sah sich Müller gezwungen, die Ministererlaubnis an seinen Staatssekretär Alfred Tacke zu delegieren. Überzeugt, dass sie dadurch "sauberer" wurde im Sinne politischer Hygiene, sei man bei E.ON nicht gewesen, schreibt Harig. Denn Tacke war normalerweise an des Ministers Weisungen gebunden, gehörte zu Müllers Haus und außerdem wie der Minister seit den vergangenen Hannoveraner Tagen zur Spezies der Frogs, der "Friends of Gerhard". Damit war klar, dass auch Schröder selbst indirekt in das Verfahren involviert war. Später kolportierte die Energiewirtschaft, der Kanzler habe seinem langjährigen Vertrauten Tacke zu einem "Ja", also zur Megafusion geraten.

Der Fall Rexrodt

Auch der inzwischen verstorbene frühere Wirtschaftsminister Günther Rexrodt ist mit von der Partie: "Ein Zusammenschluss von E.ON und Ruhrgas sei ... durchaus richtig", schreibt er in der Welt am Sonntag am 23. Januar 2002. Fünf Tage später erscheint sein Meinungsbeitrag in der Financial Times Deutschland. Die Zeitung titelt am 28. Januar 2002: "Ex-Wirtschaftsminister Rexrodt befürwortet Übernahme von Ruhrgas durch E.ON". Was Rexrodt damals dezent unterschlägt, ist sein persönliches Interesse an der E.ON/Ruhrgas-Lösung - als Finanzvorstand der Consulting-Firma WMP wird Rexrodt von BP dafür bezahlt, die Interessen des Konzerns durchzusetzen.

"Das ist ein wirklich ärgerlicher Verstoß gegen die politische Hygiene", wettert der damalige Chefredakteur der Financial Times Deutschland, Christoph Keese, später im Berliner Tagesspiegel. Doch der WMP schadet es nicht. Im Gegenteil. Auftraggeber BP darf am Ende das Tankstellennetz von Aral übernehmen, das mehr als 2.000 Straßentankstellen umfasste. Lord Browne war zufrieden mit der Arbeit von WMP und verlängerte damals den Vertrag.

Hilfe bei Formulierungen

Das Entstehen der Paragraphen des neuen Energiewirtschaftsgesetzes dokumentiert die hohe Kunst des Lobbyismus. Unübersehbar ist trotz höchster Diskretion der Einfluss der Konzerne und Verbände. Ein Blick hinter die Kulissen der Ministerialbürokratie vermittelt einen fast atemberaubenden Eindruck vom Spagat der Ministerialbeamten und des Ministers zwischen Unparteilichkeit und Abhängigkeit. Deutlich wird auch die Arbeitsteilung: Während der Minister mit den Konzernvorständen die Energiemarktreform grundsätzlich abstimmt, "helfen" die Lobbyisten den Referenten im Wirtschaftsministerium bei der Formulierung wichtiger Paragraphen aus. Von den Interessen der zahlenmäßig am stärksten Betroffenen, den zig Millionen Haushalten, fehlt dort jede Spur.

So schickt der Generalbevollmächtigte von E.ON, Gert von der Groeben, bereits am 25. Juli 2003 eine 13 Seiten lange Replik zum streng geheimen Bericht an die Ministerialdirigentin Dorothée Mühl und an den energiewirtschaftlich federführenden Staatssekretär Georg Wilhelm Adamowitsch ins Wirtschaftsministerium, obwohl das "von unabhängigen Gutachtern erarbeitete Papier", das der Bundesregierung als Grundlage für die Energiemarktreform dienen soll, offiziell erst am 31. August 2003 zugänglich ist (…).

Aber auch über ihre Verbände dringen die Unternehmen in das Ministerium. Nachzulesen ist das im Entwurf der Verordnung über den Zugang zu Elektrizitätsversorgungsnetzen vom 20. April 2004. Dort werden die Spielregeln festgelegt, wer künftig zu welchen Konditionen die Leitungen nutzen darf. Unter "2. Abschnitt" hat ein Ministeriumsmitarbeiter vermerkt: "Forderungen der Netzbetreiber ... bisher nicht berücksichtigt. Gespräch hierzu mit dem Verband der Netzbetreiber am 22. April 2004". In der parallel dazu entworfenen Verordnung über die Ermittlung der Entgelte für den Zugang zu Elektrizitätsversorgungsnetzen weist der Bearbeiter unter anderem auf die Urheber des Paragraphen 18 hin: "Vorschlag RWE", "wörtlich RWE", "fast wörtlich RWE", "Zusatz RWE klären". Besonders brisant ist daran, dass unter anderem gerade in diesem Paragraphen die künftige Ermittlung ebenjener Entgelte geregelt wird, von denen nicht nur das Bundeskartellamt annimmt, dass sie unrechtmäßig überhöht sind - und die Verbraucher bis zu 30 Prozent zu viel bezahlen.

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Gewinne sprudeln

Verbraucher werden nicht zu Spitzengesprächen oder gar Rotweinrunden ins Kanzleramt geladen, obwohl sie die Zeche zahlen. Ob Ökosteuer, Ökoenergieausbau oder Emissionshandel: Immer garantiert die rotgrüne Regierung der (Groß-)Industrie finanzielle Erleichterungen, die zu Lasten privater Verbraucher, Mittelständler, Gewerbebetriebe und Dienstleister gehen, indem die gewährten Rabatte auf deren Gebühren draufgeschlagen werden.

Ist es ein Erfolg der rotgrünen Regierung, dass in ihrer Zeit die Gewinne der Energiekonzerne so sprudeln wie lange nicht? Ist es ein Erfolg des Wirtschafts- und Arbeitsministers, die Bedingungen für Energiekonzerne weiterhin so zu fördern, während diese Arbeitsplätze abbauen? Allein die deutschen Stromversorger strichen nach Angaben ihres Branchenverbandes zwischen 1991 und 2003 etwa 88.000 Arbeitsplätze.

Widerstand notwendig

Die in diesem Buch beschriebenen Fälle von Lobbyismus zeigen: Unternehmer und Top-Manager verändern Abläufe, sie zerstören Bestehendes, um etwas Neues, ihren Interessen Entsprechendes zu schaffen. In Berlin geht es jedoch nicht um irgendeinen Markt. Dort erobern und besetzen die Unternehmen den zentralen Marktplatz der Republik, jenen Ort, an dem wirtschafts- und sozialpolitische Entscheidungen für 82 Millionen Menschen fallen.

Regierung, Parlament, Ministerien, Medien und Bürger müssen auf diese Entwicklung reagieren. Jenseits aller Sozialromantik braucht die Demokratie ein starkes Korrektiv zur wachsenden Ökonomisierung.

Die Lobbyisten der Zivilgesellschaft sind noch zu schwach oder einfach zu unprofessionell, im Stil der Wirtschaft vorbeugend "schädliche" Gesetzesvorhaben zu beeinflussen und zu verhindern. Sie brauchen mehr Geld von denen, die sie vertreten: den Bürgern. Diese werden nur dann ihre Portemonnaies öffnen, wenn bei ihnen ein Bewusstsein dafür entsteht, was mächtige Interessenvertreter bewegen können. Dass jeder auch sein eigener Lobbyist ist. Erst dieser Umstand erklärt das heutige, manchmal übermächtige Gewicht der Wirtschaft in Berlin.

letzte Änderung: 13.04.2009