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Früher galt Wunsiedel als »Bayerisch Sibirien« und litt unter Abwanderung. Dann setzte die Kleinstadt auf eine lokale Energiewende. Heute studieren Delegationen aus aller Welt das Erfolgsmodell. Ein Besuch im Fichtelgebirge.

Der Wunsiedler Weg

Früher galt Wunsiedel als »Bayerisch Sibirien« und litt unter Abwanderung. Dann setzte die Kleinstadt auf eine lokale Energiewende. Heute studieren Delegationen aus aller Welt das Erfolgsmodell. Ein Besuch im Fichtelgebirge.
Von Julia Graven

(18. August 2025) Zwei Pärchen sitzen beim Kuchen in der Bäckerei. Nebenan schlecken Kinder Eis in der Sonne. Ruhig und beschaulich ist es auf dem Marktplatz von Wunsiedel. Nur ein Schlagbohrer stört die Idylle.

Doch Wunsiedels Bürgermeister Nicolas Lahovnik ist heilfroh über den Lärm. Denn er zeigt, dass wieder Leben in der Stadt herrscht. »Vor ein paar Jahren stand die gesamte Ostseite des Marktplatzes leer«, erinnert sich der 35-Jährige. Nun wird das letzte der klassizistischen Bürgerhäuser kernsaniert. Im Erdgeschoss soll eine Gastwirtschaft entstehen, darüber Apartments. »Es geht aufwärts«, sagt der CSU-Politiker. »Und dafür ist zu einem ganz erheblichen Teil der Wunsiedler Weg verantwortlich. Ohne ihn wäre die Stadt nicht so attraktiv.«

 ED 02/2025 Der Wunsiedler Weg (S.16-19) 

Biomasse-Heizkraftwerk: Die Stadt nutzt ihre natürlichen Ressourcen.

Der Wunsiedler Weg? Die Leute hier im Fichtelgebirge wissen, was das ist. Manche können es schon nicht mehr hören, doch die meisten sind stolz darauf. Es ist der Weg in eine neue Energiezukunft, den die Stadt vor einem Vierteljahrhundert begonnen hat. Er soll sie günstig, effizient und sicher mit nachhaltigem Strom und Wärme versorgen, unabhängig von Energiekonzernen mit ihren Großkraftwerken und unabhängig von politischen Weltlagen, die Preise in die Höhe treiben oder Versorgungskrisen auslösen.

Wunsiedel erzeugt Strom im Überschuss – und speichert ihn lokal

Das Konzept hat ein Mann geschmiedet, der an diesem Nachmittag mit einem Elektro-Smart durch die Stadt flitzt. Vor dem Energiepark im Osten der Stadt kommt er zum Stehen. Marco Krasser, Geschäftsführer der Stadtwerke Wunsiedel, steigt aus und marschiert zum Einfahrtstor, wo die Zukunft der dezentralen Energieversorgung beginnt.

Was hier zwischen Ausläufern des Fichtelgebirges und Getreidefeldern entstanden ist, ist ein komplexes Gesamtsystem. Es geht zum einen um die Produktion von möglichst viel grünem Strom. Zum anderen geht es aber um die weitaus schwierigere Frage, wie sich der Strom aus Wind, Sonne und Biomasse sinnvoll speichern lässt. Solarstrom-Überschüsse an Sommertagen, unter denen die Netze ächzen, und Dunkelflauten im November sind bislang ungelöste Probleme.

Der Stadtwerke-Chef ist von der dezentralen Lösung überzeugt: »Strom und Wärme, die lokal erzeugt, gespeichert und genutzt werden, müssen nicht über weite Strecken transportiert werden«, sagt Krasser. Das spart CO, senkt Kosten und vermeidet unnötigen Netzausbau. Vielleicht könnte es sogar große Stromtrassen überflüssig machen. So oder ähnlich könne es überall funktionieren, sagt der Elektroingenieur.

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„Als ob die ganze Welt auf uns schaut“:  Stadtwerke-Chef Marco Krasser (Mitte) mit Bürgermeister Nicolas Lahovnik (rechts) und Stadtwerke-Mitarbeiter Thomas Ködel in der Power-to-Heat-Anlage. 

»Es geht darum, möglichst 100 Prozent der Primärenergie zu nutzen und damit Kosten zu senken«
Marco Krasser, Chef der Stadtwerke Wunsiedel

Viele Gemeinden haben ihre Stadtwerke verkauft. Wunsiedel nicht 

Früher lief es in Wunsiedel wie in den meisten anderen Kommunen auch: Die Stadtwerke kauften den Strom von einem der großen Energiekonzerne und verteilten ihn bloß an ihre Kunden. Dann kam die Liberalisierung der Strommärkte, und viele Kommunen dachten darüber nach, ihre Stadtwerke zu verkaufen.

Auch Wunsiedel hätte das Geld gebrauchen können, die Stadt war und ist bis heute hoch verschuldet. Als Textilfabriken und Porzellanhersteller pleitegingen und viele Jobs über die Grenze nach Tschechien wanderten, erlebte der Landkreis einen Absturz. Nichts wie weg, hieß es im Fichtelgebirge, auch Bayerisch Sibirien genannt. Wunsiedel verlor jeden zehnten Einwohner, es gingen vor allem die Jungen.

Für den damaligen Bürgermeister Karl-Willi Beck kam ein Verkauf der Stadtwerke jedoch nicht infrage. Wunsiedel sollte sich wehren gegen den Abstieg, aus eigener Kraft und mit den eigenen Möglichkeiten. Die bäuerliche Herkunft habe ihm den Weg zu den Erneuerbaren geebnet. »Du musst säen, wenn du ernten willst«, erzählt Beck in einem Video zum Wunsiedler Weg. Also nahm der mittlerweile verstorbene CSU-Politiker den gerade erst mit nicht einmal 30 Jahren zum Geschäftsführer gewordenen Marco Krasser in die Pflicht: »Bis 2025 wollen wir energieautark sein«, forderte der Bürgermeister. »Sie haben 14 Tage Zeit, sich eine Strategie zu überlegen. Wenn die Strategie gut ist, dürfen sie Ihren Job behalten.«

Krassers Konzept überzeugte den Bürgermeister mit der intelligenten Vernetzung der Sektoren Strom, Wärme, Mobilität und Industrie. Der erste Meilenstein des Wunsiedler Wegs war 2004 eine kleine Bürgersolaranlage. Sie warf 20 Jahre lang sieben Prozent Zinsen im Jahr für die Bürger ab, die sich an der Anlage der Stadtwerke finanziell beteiligt hatten. Nach Ablauf der EEG-Förderung ist sie nun im alleinigen Besitz der Stadtwerke und produziert immer noch günstigen Strom.

Auch mit Investorengeld entstanden Windräder, Blockheizkraftwerke, Stromspeicher und noch mehr Solaranlagen. Nicht alle waren begeistert. Doch die Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011 ließ die Kritik verstummen. Auf einmal wollten alle weg vom Atomstrom. »Uns kam es damals so vor, als ob die ganze Welt auf uns schaut«, erinnert sich Krasser. Bald kamen erste Delegationen aus Marokko, China, Australien und ganz Deutschland.
Mittlerweile leitet Krasser die Stadtwerke seit fast einem Vierteljahrhundert. Routiniert rauscht er durch den Energiepark, öffnet schwere Türen zu lärmenden Turbinen, erläutert den Leitstand mit seinen Computermonitoren und zeigt die Container mit Batteriespeichern. Die Grundidee ist es, erneuerbare Energie aus Sonne, Wind und Biomasse vor Ort zu produzieren, zu speichern und zu nutzen.

 ED 02/2025 Der Wunsiedler Weg (S.16-19) 

Andreas Schmuderer (links) und Marco Krasser im Batteriespeicher von Wunsiedel: Die Kleinstadt ist vom Verkehr abgesehen praktisch CO2-neutral.

Sonne, Wind, Biomasse, Abwärme: Die Stadt nutzt all ihre Ressourcen

An diesem sonnigen, aber kühlen Nachmittag haben die PV-Anlagen in und um Wunsiedel schon mehr Energie erzeugt, als Haushalte und Firmenkunden verbrauchen. Damit solche Überschüsse rund ums Jahr verfügbar sind, speichern die Stadtwerke sie: kurzfristig in Batteriespeichern oder langfristig Wasserstoff, den ein Elektrolyseur im Energiepark herstellt. »Es geht darum, möglichst 100 Prozent der Primärenergie zu nutzen und damit Kosten zu senken«, so Krasser. »Unser Vorbild ist die Natur. Klimaschutz ist dabei eigentlich nur ein Nebenprodukt.«

Für kühle Tage ohne Sonne und Wind produziert eine Anlage im Energiepark zudem Holzpellets. Lastwagen liefern bis in die späten Abendstunden tonnenweise nicht genutzte Baumspitzen und Zweige aus dem benachbarten Sägewerk an. Die Biomasse wird in einem Heizkraftwerk verbrannt und produziert Strom. Die Abwärme aus diesem Prozess trocknet in einem nächsten Schritt Sägespäne, die zu Pellets gepresst werden. Sie sind quasi ein Langzeitspeicher für überschüssige Energie. Im Winter kommen die Pellets dann in kleinen Blockheizkraftwerken zum Einsatz. Diese liefern Wohngebieten Strom und Nahwärme, genau so viel, wie die Familien dort gerade brauchen.

Gäbe es in ganz Deutschland solche Systeme, könnten negative Strompreise bei viel Sonnenschein oder hohe Preise bei Dunkelflaute der Vergangenheit angehören. Anderswo funktioniere es laut Krasser vielleicht mit mehr Wind und weniger Holz, mit Geothermie oder auch mit Wasserkraft. In der Großstadt wäre ein Pelletwerk wenig sinnvoll. Aber ein dezentrales System, das alle Ressourcen nutzt und Energieerzeuger und -verbraucher verbindet, ließe sich überall umsetzen, davon ist Krasser überzeugt.

Auch der Weltkonzern Siemens glaubt an die Idee. Andreas Schmuderer, der 2015 zum ersten Mal ins Fichtelgebirge kam, war beeindruckt, »wie aus Visionen und Pioniertätigkeiten nachhaltige, sichere und zukunftsorientierte Vorhaben entstehen.« Der Siemens-Ingenieur begleitet das wundersame Geschehen in Wunsiedel seither intensiv. Aktuell arbeitet er an Prognosesystemen und digitalen Lösungen für die permanente Vernetzung von Strom, Wärme und Mobilität in Wunsiedel. Für seinen Arbeitgeber ist es »eine der größten grünen Referenzen« geworden, so Schmuderer.

Der Konzern hat sogar einen aufwendigen Film finanziert, der auf Youtube und in der Mediathek von Amazon das Projekt und seine Macher wie Kinohelden feiert. Ist das nicht etwas zu dick aufgetragen? Nö, sagt Krasser. Die Wunsiedler seien stolz darauf.

Er plant bereits das nächste Zukunftsprojekt: Aus Restholz und überschüssigem Elektrolysesauerstoff aus der Wasserstoffproduktion soll synthetischer Flüssigkraftstoff entstehen. »Wastewood to Fuel« heißt das vom Bund geförderte Projekt. Es ist nur eines von vielen Projekten im neuen Future Energy Lab.

 ED 02/2025 Der Wunsiedler Weg (S.16-19) 

Anlage zur Wasserstoffproduktion: Die Stadt und ihre Einwohner profitieren von der Energiewende.

Auch am Wunsiedler Weg, der bisher 250 Millionen Euro gekostet hat, wird weitergebaut. Seit vergangenem Sommer etwa wird Strom für die dunkle Winterzeit auch auf dem ehemaligen Acker von Landwirtin Ute Frohring geerntet. Wo früher Mais und Getreide wuchsen, produziert nun eine 30-Megawatt-Anlage Sonnenstrom.

Weil die Module entlang der gewundenen Straße bis zum Waldrand etwas höher aufgeständert sind als üblich, kann die Landwirtin die umzäunten Flächen sogar weiter nutzen. Agri-PV nennt sich das Konzept. Sobald das Gras wieder wächst, wird dort eine Herde mit rund 70 Schafen weiden. Ein anderer Teil der Anlage wird von einer Schar schnatternder Gänse abgegrast. »Die laufen nebeneinanderher von links nach rechts wie ein großer Rasenmäher«, erzählt Frohring lachend. Die Landwirtin sitzt nach dem Mittagessen gemütlich am Küchentisch. Die PV-Anlage sei ein Segen für sie, sagt Frohring, »ich könnte mit Getreide allein nie so viel erwirtschaften.« 

Ihr Vater Ernst, der sich in Gummistiefeln mit an den Tisch setzt, ergänzt im breiten Oberfränkisch, dass die extensive Nutzung auch für die Natur besser sei als Maisanbau mit Dünger und Pflanzenschutz. „Für Feldhamster, Feldlerche und die Wiesenbrüter ist das ideal. Sie haben dort ihre Ruhe vor den Menschen – und Wolf und Fuchs kommen nicht rein.«

Das Geld für die Großanlagen bringt die Gemeinde nicht allein auf. An den verschiedenen Gesellschaften für Solarparks, Stromspeicher, Bioenergie, Wasserstoff und Pelletwerk sind auch Konzerne wie die Baywa und Siemens beteiligt. Die Zukunftsenergie Nordostbayern GmbH (ZENOB) mit derzeit 27 Kommunen oder kommunalen Unternehmen überträgt das Modell auf die Region. Laut Stadtwerke-Chef Krasser stehen noch 23 Nachbarkommunen auf der Warteliste und wollen den Weg mit Wunsiedel zusammen gehen. 

Die Investitionen waren hoch. Doch inzwischen profitiert die Stadtkasse

Doch nicht alle in der Region sind davon begeistert. Im benachbarten Kirchenlamitz entschieden sich die Bürger gegen die Ausweisung eines weiteren Wind-Vorranggebietes.  Wunsiedels Stadtrat dagegen steht geschlossen hinter der lokalen Energiewende. Er hat im Januar mitten im aufgeheizten Bundestagswahlkampf einstimmig eine Resolution beschlossen, die sich gegen eine »Rolle rückwärts in der Energiepolitik« ausspricht.

Was die Zukunft Wunsiedels betrifft, ist Bürgermeister Lahovnik optimistisch, »auch wenn wir aus einem wirklich tiefen Tal kommen.« Die finanzielle Situation der hoch verschuldeten Kommune war so desolat, dass Wunsiedel seit 2013 nur noch das Nötigste ausgeben durfte. Zu den Schulden der Stadt kommen hohe Investitionen in das Anlagevermögen der Stadtwerke hinzu. Allerdings erwirtschaften die Stadtwerke mittlerweile Gewinne, die den Haushalt der Stadt sanieren. 2023 waren es rund 1,5 Millionen Euro. »Die extrem schlechten Prognosen bei der Einwohnerentwicklung sind überwunden«, sagt Lahovnik. Die Einwohnerzahl ist stabil und die Nachfrage nach Wohnraum so groß, dass die Stadt sogar ein Neubaugebiet plant.

Vor Kurzem machte der Landkreis Schlagzeilen, als er in einer Kaufkraft-Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft mit Starnberg, Sylt, München und dem Tegernsee in der Spitzengruppe landete. Die niedrigen Lebenshaltungskosten sind ein wichtiger Faktor. Daneben entstehen attraktive Arbeitsplätze im Bereich der regenerativen Energien, und das Gewerbesteuervolumen habe sich mehr als vervierfacht, sagt der Bürgermeister. Die Stadtwerke, die Wunsiedel zur Jahrtausendwende nicht verkaufte, sind heute mit ihren Beteiligungen einer der großen Gewerbesteuerzahler. Der Wunsiedler Weg, er hat sich bewährt.

letzte Änderung: 02.05.2011