Verbraucherinteressen in der Verhandlungsdemokratie
Prof. Fritz W. Scharpf hielt am 21. Juli 02 auf einer Tagung der Verbraucherzentrale Bundesverband in Berlin einen vielbeachteten Festvortrag. Hier seine Kernthesen.
Ökonomisch gesehen ist die Befriedigung des Verbraucherinteresses der einzige Zweck der Wirtschaft. Im Markt konkurrieren die Unternehmen miteinander um die Chance, dem Verbraucher dienen zu dürfen. Zugleich sind die Verbraucher politisch gesehen die größte überhaupt mögliche Gruppierung, die alle Wähler aller Parteien und überdies auch noch alle Nichtwähler einschließt - unvergleichlich viel größer als der Bauernverband oder die IG Chemie. Warum also sollte dieses vom Markt befriedigte Interesse überhaupt einer politischen Vertretung bedürfen? Und wenn doch, worin sollten besondere Schwierigkeiten der Vertretung einer alle Wähler einschließenden Interessengruppe begründet sein?

Prof. Fritz W. Scharpf, Direktor des Instituts für Gesellschaftsforschung Köln
Verbraucherinteressen bedürfen der Organisation
Auf dem Markt steht den Anbietern jedoch nicht die kollektive Marktmacht der vereinigten Verbraucherschaft gegenüber, sondern der einzelne Konsument. Anders als das früher von den Konsumgenossenschaften versucht wurde (oder als es heute im Verhältnis zwischen großen Handelsketten und den einzelnen Bauern praktiziert wird), können die Letztverbraucher ihre Marktmacht nicht gebündelt einsetzen, um den Anbietern ihre Konditionen zu diktieren.
Fundamentale Informationsasymmetrie
In einem sich selbst überlassenen Markt könnten die Anbieter den Wettbewerb untereinander zum Nachteil der Verbraucher beschränken. Schon die Sicherung eines ökonomisch ausgeglichenen Preis-Leistungsverhältnisses ist also auf den Staat angewiesen, der gegen Kartellabsprachen und marktbeherrschende Konzentration vorgehen muss. Aber auch in funktionierenden Märkten wird die Werbung niemals ausreichen, um die fundamentale Informationsasymmetrie zwischen Verbrauchern und Anbietern auszugleichen. Freilich schützt verfügbare generelle Information nicht vor Mängeln im Einzelfall, die sich erst beim Gebrauch zeigen. Hier muss das staatliche Gewährleistungs- und Haftungsrecht dem Verbraucher erst die Möglichkeit verschaffen, seine Interessen wahrzunehmen.

Kollektives Handeln ist die notwendige Voraussetzung für die Durchsetzung der Interessen des individuellen Verbrauchers.
Selbstorganisation und Zwangsverbände
Die Verbraucher in ihrer Gesamtheit konstituieren zwar zusammen mit den Anbietern die Marktwirtschaft, aber sie können ihre Interessen nur in begrenztem Maße allein durch individuelles Handeln im Markt verwirklichen. Kollektives Handeln ist also die notwendige Voraussetzung für die Durchsetzung der Interessen des individuellen Verbrauchers.
Im Prinzip gibt es dafür zwei Modelle - die Selbstorganisation in handlungsfähigen Verbänden und den Versuch der Einflussnahme auf das Handeln politischer Zwangsverbände, des Staates also oder der Europäischen Union.
Der erste Weg ist charakteristisch für den Arbeitsmarkt, wo sich Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände kollektiv organisiert haben und jedenfalls bei uns ihre Marktbeziehungen ohne Mitwirkung des Staates durch Tarifverhandlungen und Kollektivverträge regeln. Ähnliches haben die Verbraucher niemals erreicht, und der Vergleich zeigt, wo die Gründe dafür liegen: Die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften hängt ab von ihrem Organisationsgrad, der zwar abnimmt, aber immer noch um mehrere Größenordnungen über dem aller Verbraucherverbände liegt. Wichtiger noch ist die Bereitschaft der Arbeitnehmer, gegebenenfalls für die Ziele ihrer Organisation zu streiken. Vor allem aber sind die Gewerkschaften in der Lage, das Konfliktverhalten ihrer Mitglieder strategisch einzusetzen und dann auch die jeweils erzielten Kompromisse als für alle verbindliches Verhandlungsergebnis zu legitimieren. Bei den Verbraucherorganisationen ist keine dieser Voraussetzungen gegeben. Aber warum ist das so?
"Politische Unternehmer" notwendig
Der amerikanische Ökonom Mancur Olson hat gezeigt, dass die Gründung eines Verbandes den Charakter eines Kollektivguts hat, und dass deshalb unter der üblichen Annahme egoistisch-rationalen Verhaltens gerade große Gruppen nicht in der Lage sind, aus sich selbst heraus eine gemeinsame Vertretung ihrer Interessen aufzubauen. Schon die Entstehung von Verbänden wäre danach auf "politische Unternehmer" angewiesen, die sich davon einen besonderen, über die Teilhabe am Kollektivgut hinausgehenden "Gewinn" versprechen - oder sie bedarf der Förderung und Subventionierung durch den Staat.
Aber die Gründung allein reicht selbstverständlich nicht. Erfolgreiche Interessenverbände brauchen Mitglieder, die bereit sind, den Verbandszweck wenigstens durch einen finanziellen Beitrag und womöglich durch eigene aktive Beteiligung zu unterstützen und gegebenenfalls das eigene Verhalten von den Direktiven des Verbandes bestimmen zu lassen. Das erfordert vielleicht im Einzelfall keinen großen Aufwand, aber ist doch viel verlangt in einer Welt, in der niemand die Zeit und die Mittel hat, sich für alle ihn potentiell interessierenden privaten und öffentlichen Belange einzusetzen. Hier liegen die eigentlichen Ursachen dafür, daß nicht alle gesellschaftlichen Interessen als mitgliedsstarke Verbände organisierbar sind.
Moralische und egoistische Motive
Zur Erläuterung verwende ich zwei Unterscheidungen zwischen möglichen Mitgliedschafts-Motiven, einerseits die zwischen moralischen und egoistischen Motiven, und andererseits die zwischen konzentrierten und diffusen Interessen. Ein Beispiel für die erste Unterscheidung ist der Vergleich zwischen den Mitgliedern von Amnesty International und den Mitgliedern des Bauernverbandes. Den ersten geht es darum, Menschenrechtsverletzungen in der ganzen Welt anzuprangern, den zweiten geht es um die Verbesserung des eigenen Einkommens. Beide sind auf kollektives Handeln angewiesen. Aber während bei Amnesty der Verbandszweck mit der moralischen Motivation des Mitglieds identisch ist und im Prinzip auch individuelle Opfer rechtfertigen kann, ist beim Bauernverband eine Übersetzung notwendig: Bei egoistischer Motivation lohnt die Mitgliedschaft nur dann, wenn das eigene Wohlergehen durch Unterstützung der Verbandsarbeit mehr gefördert wird als durch andere Möglichkeiten der Verwendung von Zeit und Geld. In dieser Unterscheidung gehören die Motive der Verbraucher grundsätzlich zu den egoistischen Interessen. Aber weshalb sind die Verbraucherinteressen dann offenbar doch schwerer zu organisieren als die ebenso egoistischen Interessen der Bauern, der Handwerker, der Metallarbeiter oder der Zahnärzte?

Demonstration als Kundgebung des Verbraucherwillens
Konzentrierte und diffuse Interessen
Zur Erklärung beziehe ich mich auf die zweite Unterscheidung zwischen konzentrierten und diffusen Interessen. Die Konsuminteressen richten sich bei jedem von uns von Zeit zu Zeit auf höchst unterschiedliche Güter und Dienstleistungen. Wenn man gerade ein Haus renoviert, hat man ganz andere Probleme als wenn man eine Trekkingtour im Himalaya oder eine Tagesmutter sucht. Noch größer sind die Diskrepanzen zwischen Konsumentengruppen, die sich nach Einkommen, Bildungsstand, kultureller und ideologischer Orientierung voneinander unterscheiden. Gewiß gibt es auch auf der Konsumseite konzentriertere Interessen. Der ADAC und der Mieterbund profitieren davon. Aber die nicht spezialisierten Verbraucherverbände wollen diffuse Interessen organisieren und sie haben es besonders schwer, ihre potentielle Klientel als zahlende Mitglieder und aktiv Mitwirkende zu gewinnen.
Beamtete Verbraucherpolitik
Das kollektive Verbraucherinteresse kann nur durch eine gemeinwohl-orientierte Politik befriedigt werden. Deshalb gibt es eine Verbraucherpolitik, die in den Ländern, im Bund und in der Europäischen Union von Politikern und Beamten betrieben wird, die mit dieser Aufgabe eine Gemeinwohlverpflichtung des Staates erfüllen. Diese Politik hat den Aufbau der Verbraucherorganisationen gefördert, sie subventioniert die Verbraucherinformation und Verbraucherberatung aus Steuermitteln, und sie schützt Verbraucherinteressen durch eine Vielzahl von Gesetzen und durch Institutionen wie das Bundeskartellamt, die für das Wettbewerbsrecht zuständige Generaldirektion der Europäischen Kommission oder die Europäischen Arzneimittel- und Lebensmittelbehörden.
Politik nur durch Konsens handlungsfähig
Je mehr die Politik auf die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und die Entwicklung der Beschäftigung Rücksicht nehmen muß, desto schwerer fällt es ihr, Forderungen der Verbraucher oder auch der Umweltverbände gegen den Widerstand der Unternehmen, Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften durchzusetzen. Der Staat muss, wenn er nicht überhaupt auf politisches Handeln verzichtet, nach Lösungen suchen, die das politische Ziel mit möglichst geringen schädlichen Nebenwirkungen für Unternehmen und Arbeitsplätze erreichen können. In der Praxis bedeutet dies, dass Gesetze und Verordnungen, die Wirtschaftsinteressen tangieren, in zunehmendem Maße in Verhandlungen mit den betroffenen Unternehmen und ihren Verbänden formuliert werden. Wenn man sich nicht einigt, könnte der Staat zwar immer noch einseitig handeln - andernfalls gäbe es für die Partner ja keinen Grund, sich überhaupt auf Verhandlungen einzulassen. Aber beide Seiten wissen, dass ein solcher Ausgang für die Politik mindestens so unerwünscht wäre wie für die andere Seite. Für die Verbraucherverbände schafft dies erhebliche Probleme, aber vielleicht auch neue Chancen.

Wer Einfluß haben will, muss an Verhandlungen teilnehmen
Verbraucherinteressen im Verhandlungspoker
Die Argumente der Verbraucher treffen nun auf Beamte und Politiker, die in Verhandlungen mit Vertretern der Wirtschaft nach Lösungen suchen, die eben nicht nur für die Politik, sondern auch für die beteiligten Unternehmen und ihre Verbände akzeptabel sein müssen. Solche Verhandlungen lassen sich von außen kaum beeinflussen, weil die jeweiligen Prioritäten und Rückzugslinien, Alternativvorschläge und Kompromissmöglichkeiten erst im Prozess des Verhandelns selbst deutlich werden und weil das Ergebnis überdies in hohem Maße von der Strategie und Taktik der Verhandelnden beeinflusst wird. Wer also überhaupt Einfluß auf das Ergebnis haben will, müsste an den Verhandlungen selbst beteiligt sein. Wo nicht, mag er vorher warnen und hinterher protestieren, aber in der Verhandlungsdemokratie wird dies nur wenig nützen. Wenn die Verbraucherverbände diesen Einflussverlust nicht hinnehmen wollen, müssten sie also selbst zu Verhandlungspartnern von Industrie, Landwirtschaft, Handel und Finanzdienstleistern werden.
Geborgte Verhandlungsmacht
Aber das ist leichter gesagt als getan. Erfolgreich verhandeln kann nur, wer Verhandlungsmacht hat - wer also über etwas verfügt, das die andere Seite haben möchte, oder wer glaubwürdig mit Nachteilen drohen kann, welche die andere Seite vermeiden will. Aus dem zuvor Gesagten scheint aber zu folgen, dass die Verbraucherorganisationen hier nichts zu bieten haben: Die Verbraucherinteressen sind aus sich heraus weder organisationsfähig noch konfliktfähig. Woher könnte dann eine von den Wirtschaftsverbänden zu respektierende Verhandlungsmacht der Verbraucherorganisationen kommen? Verbraucherinteressen brauchen die gemeinwohlorientierte staatliche Politik zur Unterstützung und Subventionierung ihrer Organisationen und diese ist auch der primäre Adressat ihrer Forderungen. Aber ebenso, wie die Politik den Verbraucherinteressen eine künstliche Organisationsfähigkeit verleihen konnte, kann sie auch künstliche Konfliktfähigkeit verleihen. Mit der Ermöglichung der Verbandsklage gegen Rechtsverletzungen bei Einzelfallentscheidungen wurde eben dies erreicht. Im Prinzip spricht jedoch auch nichts gegen die Möglichkeit, die Verbraucherorganisationen auch im Prozess der ausgehandelten Rechtsetzung mit künstlicher
Verhandlungsmacht auszustatten. Moralisch motivierte Verbraucher-Aktivisten
Die Frage ist jedoch, ob die Verbraucherorganisationen nach ihrer inneren Verfassung in der Lage wären, eine solche Chance zu nutzen. Die Konsumenten verfolgen zwar egoistisch-rationale Interessen, die von ausgehandelten Kompromissen profitieren würden. Aber in den Verbraucherorganisationen dominieren nicht die egoistischen Verbraucher, sondern Aktivisten, die in erster Linie moralisch motiviert sind - was sich auch daran zeigt, dass die Verbraucherorganisationen sich in zunehmendem Maße moralische Anliegen von der nachhaltigen Entwicklung bis zu den Interessen der Dritten Welt zu eigen gemacht haben. Für sie, die ihre Freizeit oder ihr berufliches Leben der Sache eines moralisch überhöhten Verbraucherschutzes geweiht haben, könnten allfällige Kompromisse mit Wirtschaftsinteressen inakzeptabel sein. Der faktische Einfluss der Verbraucherorganisationen auf die Politik hängt also von ihrer internen Willensbildung und von der Fähigkeit ihrer Vertreter ab, die Interessen ihrer Klientel als zugleich strategiefähige und kompromissfähige Verhandlungspartner wirksam zu vertreten.
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