ED 04/12 Eine Welt ohne Öl (S.30-31)

Energiepolitik am Scheidepunkt

Der Ökostromausbau muss effizienter werden, aber hoch bleiben, fordert ein Bericht des Wirtschaftsministeriums. Doch dort interpretiert man die Ergebnisse anders. Wir die Energiewende jetzt ausgebremst?
Von Volker Kühn

(3. November 2025) Wie viel Strom verbraucht Deutschland in fünf Jahren? Wie viel in zehn und in 20 Jahren? Die Frage klingt akademisch, ist für die Energiepolitik aber zentral. Denn die Antwort entscheidet, in welchem Umfang Deutschland in erneuerbare Energien und die Stromnetze investieren muss, um seine gesetzlich festgelegten Klimaziele zu erreichen.

Für 2030 sieht das Gesetz einen Ökostromanteil von 80 Prozent vor. Fragt sich nur: 80 Prozent wovon? Die Ampelregierung war von einem Verbrauch von bis zu 750 Terawattstunden ausgegangen und hatte entsprechend hohe Ausbauziele für die Wind- und Solarenergie festgelegt. Schließlich sollte der Strom reichen für Millionen von E-Autos und Wärmepumpen, für die Produktion von Wasserstoff und den Ersatz von Kohle, Öl und Gas in der Industrie.
Doch die Elektrifizierung kommt nicht so schnell voran wie erwartet. Der Strombedarf ist in den vergangenen Jahren sogar gesunken, 2024 lag er bei knapp 520 Terawattstunden.

ED 03/2025 Energiepolitik am Scheidepunkt (S.18/19) 

Kohlekraftwerk und Windräder in Niedersachsen: Wohin steuert die deutsche Energiepolitik?

Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche hat daher ein »Monitoring« in Auftrag gegeben – eine Metaanalyse der vielen bereits vorliegenden Prognosen zum Strombedarf aus allen politischen Lagern. Dieses Monitoring sollte die Basis liefern für eine realistische Neubewertung der Energiewende. Und siehe da: Als die beauftragten Forschungsinstitute Mitte September das Ergebnis vorstellten, kamen sie auf einen Bedarf von 600 bis 700 Terawattstunden – mehr als aktuell, aber eben weniger als zuvor erwartet.

Der Stromverbrauch steigt – wenn auch langsamer als bislang vorhergesagt

Was folgt nun daraus? Darüber entbrannte schon während der Vorstellung des Monitorings eine Debatte. Der Ausbau der Erneuerbaren sei weiterhin in hohem Umfang notwendig, heißt es im Monitoring. Das Tempo dürfe nicht nachlassen, nur dann bestehe die Chance, das 80-Prozent-Ziel 2030 zu erreichen,  die Forscher in der Pressekonferenz. »Wir sagen, es braucht weiterhin signifikanten Zubau Erneuerbarer und signifikanten Zubau in den Netzen, aber wir müssen das alles ein bisschen intelligenter machen«, sagte Alexander Kox, Geschäftsführer des am Monitoring beteiligten Beratungsunternehmens BET.

»Der Ausbau der erneuerbaren Energieanlagen ist weiterhin in hohem Umfang notwendig, um die Klimaziele zu erreichen«
Monitoring des Bundeswirtschaftsministeriums

Katherina Reiche kam allerdings in derselben Pressekonferenz zu einer anderen Interpretation. Sie erklärte, die Energiewende stehe »am Scheidepunkt« und müsse »neu ausgerichtet « werden. Was das bedeutet, umriss sie in einem Zehn-Punkte-Plan. Er sieht unter anderem die Streichung der Einspeisevergütung für PV-Anlagen auf Privathäusern vor (mehr dazu in ED 03/2025 ab Seite 26). Schon zuvor hatte Kanzler Friedrich Merz erklärt, er vermute, »dass wir im Ausbau etwas weniger machen können«.

Die Kosten für den Netzausbau explodieren. Die Politik sucht ein Gegenmittel

Den angestrebten »Neustart der Energiewende« begründet Reiche vor allem mit den Kosten. Die Strompreise in Deutschland sind im internationalen Vergleich hoch, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft leidet, das Gespenst einer »Deindustrialisierung« macht die Runde. 

Schuld daran sind insbesondere Milliardeninvestitionen in den Netzausbau. Sie werden von den Verbrauchern über die Netzentgelte getragen; Rabatte und Ausnahmen gibt es für die energieintensive Industrie. Für Haushaltskunden haben sich die Netzentgelte von 2016 bis heute auf im Schnitt elf Cent pro Kilowattstunde fast verdoppelt. Und falls der Gesetzgeber nicht gegensteuert, werden sie weiter steigen. Die Netzbetreiber schätzen den Investitionsbedarf bis 2037 nach jüngsten Zahlen auf 440 Milliarden Euro, 36 Milliarden pro Jahr.

Aber was genau bedeutet gegensteuern? Welche Wege führen aus der Kostenfalle?

Reiches Antwort scheint klar: Wer weniger Erneuerbare baut, muss auch weniger Geld in die Netze stecken. Die gesenkte Strombedarfsprognose liefert ihr überdies eine plausible Begründung, um die Ziele zu kappen.

Ihre Kritiker halten genau das allerdings für fahrlässig, und das aus mehreren Gründen. Da sind zum einen die Klimaziele, die Deutschland gemäß nationaler Gesetze und internationaler Abkommen erreichen muss. Auch das Bundesverfassungsgericht schreibt einen wirksamen Klimaschutz vor. Dazu allerdings ist die möglichst rasche Elektrifizierung aller Sektoren nötig, und das wiederum funktioniert nur mit den nötigen Ökostrommengen.

Aber auch ökonomische Gründe sprechen gegen einen grundsätzlichen Kurswechsel. »Investitionen in Erneuerbare haben eine dreifache Dividende«, erklärt Bernd Weber, Gründer des CDU-nahen Thinktanks Epico: »Sie senken die Strom-Großhandelspreise, reduzieren die Emissionen und ermöglichen Elektrifizierung von Verkehr und Industrie.«

»Meine Vermutung ist, dass wir im Ausbau etwas weniger machen können«
Bundeskanzler Friedrich Merz

Die Elektrifizierung steht vor einem Kipppunkt. Plötzlich könnte es sehr schnell gehen

Um die Netzentgelte einzudämmen, empfiehlt Weber regionale Preissignale: Strom müsse dort günstig sein, wo er im Überschuss vorhanden ist. Die in diesem Kontext geforderte Aufteilung des Landes in mehrere Strompreiszonen hält er allerdings für politisch nicht durchsetzbar. Stattdessen plädiert er für eine umfassende Netzentgeltreform sowie den Bau von Speichern und Anreize für einen flexiblen Verbrauch. Beides bringe Angebot und Nachfrage zusammen und reduziere den Bedarf an neuen Netzen.

Ähnlich argumentiert der Strommarktexperte Tim Meyer (siehe Interview in ED 03/2025, Seite 20). Er verweist auf die gigantischen Zuwachsraten der globalen Solarenergie. Die Elektrifizierung stehe vor einem Kipppunkt. Niemand könne seriös abschätzen, wie groß der Strom- und Netzbedarf in 20 Jahren ist. Daher sei die Politik gut beraten, schrittweise vorzugehen. Auch bei den Gaskraftwerken, die Reiche als Ergänzung zum Ökostromausbau plant. Statt der geplanten 20 Gigawatt reichten zunächst vielleicht nur fünf. »Die Stromnetze in Deutschland entsprechen nicht mehr den Anforderungen eines modernen Industriestaats«, sagt Meyer. »Die Antwort darauf darf nicht sein, dass wir die Anforderungen herunterschrauben.«

letzte Änderung: 03.11.2025