Netzausbau im Überfluss
Seit zehn Jahren liefern sich Netzbetreiber, Gesetzgeber und Behörden in Deutschland einen Wettlauf um den schnellsten, größten, fortschrittlichsten und wohl auch teuersten Ausbau, den unsere Stromnetze je erfahren haben. Ob alle Maßnahmen in Summe sinnvoll und kosteneffizient sind, scheint niemanden zu interessieren.
Von Leonora Holling
(19. Mai 2021) Im Zuge des Atomausstiegs, der Energiewende mit dezentraleren Strukturen und im Hinblick auf europarechtliche Anforderungen zur Stärkung des europäischen Strombinnenmarktes wurde im Jahr 2009 mit dem Energieleitungsausbaugesetz (EnLAG) ein vermutlich sinnvoller und maßvoller Ausbau des deutschen Stromübertragungsnetzes beschlossen. Zu den 24 Ausbauvorhaben zählten auch innovative Lösungen wie „technisch und wirtschaftlich effiziente Erdkabel-Teilabschnitte“.
Wettlauf ohne Maß
Bis heute wurde von den Maßnahmen des ersten Ausbaugesetzes EnLAG nur etwas mehr als die Hälfte fertiggestellt. Die neu geschaffenen Planungsstäbe bei den Übertragungsnetzbetreibern stellen seither alle zwei Jahre mit sogenannten „Szenariorahmen“ immer neue Ausbaupotenziale zusammen, die in 10 bis 15 Jahren sinnvoll sein könnten. Diese werden von der Bundesnetzagentur in Netzentwicklungspläne übernommen, aus denen Bundesbedarfspläne entstehen, die anschließend auf Kosten der Verbraucher umgesetzt werden. Diese ausufernden Bedarfsplanungen, was man alles brauchen und bauen könnte, berücksichtigen die daraus resultierenden Investitions– und Betriebskosten nur höchst unzureichend. Konsequenterweise enthält der aktuelle Bundesbedarfsplan neben dem bloßen Netzausbau mit bewährter Technik auch besonders kostenintensive Pilotprojekte für „Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungen“ sowie die Erprobung neuartiger Erdkabel und leistungsstärkerer „Hochtemperaturleiterseile“ für Überlandleitungen. Hier ist festzustellen, dass die Energieverbraucher an dieser Stelle mit ihren Stromrechnungen Kosten übernehmen werden, die sachgerecht eigentlich den Etat des Forschungsministeriums belasten müssten.
Kosten ohne Ende
Dem „Clean Energy for all Europeans Package“ der EU zu Folge, soll die Umstellung auf erneuerbare Energien eine kostenmäßige Entlastung der Verbraucher bedeuten. Mit der derzeitigen Ausgestaltung der Netzentwicklungspläne würden hingegen die deutschen Stromverbraucher in Summe stärker belastet. Etwa auch im Falle der Überschussproduktion bei Erneuerbaren. Diese Überschüsse sind der aktuellen Planungslage nach abzutransportieren und notfalls bis ins Ausland zu exportieren. Das Strommarktdesign kennt keine Entfernungen, Strom wird stumpf an der Börse gehandelt und ist dann durch das Netz – egal zu welchen Kosten – zu transportieren. Der europäische Verband der Übertragungsnetzbetreiber ENTSO-E hat bereits 2018 gewarnt, dass die durch einen ungehemmten Netzausbau zu erwartenden Kosten den Nutzen klar übersteigen. Die deutsche Bundesregierung kalkuliert für den Netzbau bis 2035 inzwischen Kosten in Höhe von 95 Milliarden Euro.
Um weiter steigende Stromkosten für Verbraucher zu verhindern, bedarf es intelligenter Lösungsansätze und keinen stumpfen Ausbau um jeden Preis. Dieser Ansicht sind nicht nur Verbraucherschützer, sondern auch die Versorgungswirtschaft. Dr. Jörg Teupen, der Vorstandsvorsitzende der Stadtwerke Kiel, äußerte sich in einem Interview mit der Energiedepesche in Ausgabe 3/2019 zu dieser Frage wie folgt: „Wir haben in unserem neusten Heizkraftwerk einen Elektrodenkessel, der bei Windstromüberschüssen und Netzengpässen verhindern könnte, dass Windkraftanlagen abgeschaltet werden müssen. Wenn wir aber zu einem solchen Zeitpunkt den überschüssigen regenerativen Strom in Wärme umwandeln, müssen wir von den Netzentgelten über Umlagen und Steuern so viele Abgaben leisten, dass es für uns nicht bezahlbar ist. Gleichzeitig werden die abgeschalteten Windkraftanlagenbetreiber in Nordfriesland auf Kosten der Stromkunden entschädigt. Die Landespolitik in Schleswig-Holstein hat bereits erkannt, dass dies ökologisch und ökonomisch unsinnig ist. Die Bundespolitik hält hingegen daran fest, Windkraftanlagen abzuregeln und ein paar Kilometer weiter fossil Wärme zu erzeugen, die in dem Moment besser und kostengünstiger regenerativ erzeugt werden könnte.“ Diesen Irrsinn hat die Bundespolitik bis heute nicht abgestellt – es laufe schließlich der Netzausbau, der alle Engpässe beheben soll.
Ungenutzte Alternativen
Alternativen zum Netzausbau, wie beispielsweise die Errichtung von Batteriespeichern nahe an der Erzeugung von Strom aus Erneuerbaren, werden nicht ernsthaft vorangetrieben. Auch die Abregelung von Einspeisespitzen getrennt nach Energieart, wie derzeit nach dem Energiewirtschaftsgesetz vorgesehen, sollte durch eine Abregelung auf der Grundlage regionaler Netzaspekte geändert werden. Eine Einspeisespitze bei einer Energieart sagt nämlich nichts darüber aus, ob diese geeignet ist, eine zeitgleiche Energieflaute in der anderen Energieart zu kompensieren. Dadurch kann eine bedarfsgerechte Bedienung der Nachfrage bewerkstelligt werden, ohne dass es einer weiteren Netzkapazität in überregionale Netze bedarf. Auch die von Stadtwerken (siehe oben) präferierten Power-to-Heat-Techniken bleiben aufgrund künstlich geschaffener rechtlicher Hindernisse ungenutzt. Stattdessen wird auf teure Zukunftsprojekte im Bereich von Power-to-Gas und insbesondere Wasserstoff verwiesen, die technisch nicht effizient sind und auch aus diesem Grund im Ergebnis wohl noch deutlich teurer werden als der jetzt schon unnötig teure Netzausbau. Bereits gebaute Kraftwerke, die aufgrund falscher Rahmenbedingungen nicht genutzt werden, fertig entwickelte und weltweit massenhaft verbaute Batteriespeicher, die hierzulande ebenfalls nicht genutzt werden und viele weitere bewährte Techniken und innovative Ideen beweisen, dass ein Netzausbau um jeden Preis nicht alternativlos ist.
Geschäftsentwicklungsplan wird zum Netzentwicklungsplan
Alle diese Aspekte berücksichtigen die Bundesbedarfspläne neben den ebenfalls nicht berücksichtigten Kostenfaktoren leider nicht. Dies verwundert wenig, wenn man bedenkt, dass die Bundesbedarfspläne im Ergebnis lediglich eine Fortschreibung der Szenariorahmen der Übertragungsnetzbetreiber und der daraus entstehenden Netzentwicklungspläne sind. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Übertragungsnetzbetreiber nur Szenarien im Bereich des Netzausbaus erstellen, die ihnen eine auskömmliche Rendite durch ebendiesen Netzausbau bescheren. Andere Szenarien wie dezentrale Stromspeicher, Power-to-Heat und andere Lösungen außerhalb des Geschäftsbetriebes der Übertragungsnetzbetreiber werden in diesen Szenarien natürlich ausgespart.
Die Rechnung zahlen wir
Schließlich darf auch bezweifelt werden, ob der ursprüngliche Grund für den Beginn des inzwischen ausufernden Netzausbaus – der Stromüberschuss durch Erneuerbare im Norden bei ungedecktem Strombedarf im Süden – tatsächlich noch besteht beziehungsweise nach Umsetzung der bereits begonnenen Maßnahmen noch bestehen wird. Berechnungen in den Netzentwicklungsplänen zu Folge erhöht sich der Bedarf an Strom in Bayern in der Zeit 2017 bis 2030 auf 15,2 GW. Durch den parallelen Ausbau der erneuerbaren Energien in Bayern wird sich aber allein im Bereich Photovoltaik die Eigenleistung dort im gleichen Zeitraum auf 20,7 GW erhöhen. Selbst vor dem Schreckgespenst Dunkelflaute ist Bayern gut gesichert. In Bayern stehen für diesen Fall 4,9 GW Gaskraftwerke bereit, die ihre Serviceleistung jederzeit bereitstellen können. Deshalb steht eher zu erwarten, dass die Stromüberschüsse aus Norddeutschland zukünftig durch die deutschen Energieunternehmen mit gutem Gewinn unter anderem nach Österreich weiterverkauft werden. Die Kosten der dafür zu verwendenden Stromtrassen haben wir Verbraucher schließlich bereits bezahlt.
Monitoringbericht Netzausbau der Bundesnetzagentur
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