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(16.10.03) Am 24. Mai hat das finnische Parlament dem Bau eines fünften Atomkraftwerks zugestimmt.

Finnlands neuer Atomreaktor umstritten

Am 24. Mai hat das finnische Parlament dem Bau eines fünften Atomkraftwerks zugestimmt. Vorausgegangen war eine intensive Diskussion. Die Kampagne gegen das neue Atomkraftwerk wurde von Umweltministerin Satu Hassi von den Grünen angeführt. 700 finnische Frauen haben sich dem Kampf mit einem vierjährigen Geburtenboykott angeschlossen, sollte der Neubau vom Parlament beschlossen werden: "Das betrifft die Menschen und nicht nur die Industrie".

794 Satu Hassi / Foto: Helsingin Sanomat

Finnlands Umweltministerin, Poetin und Atomkraftgegnerin Satu Hassi

(16. Oktober 2003) Die Atomkraftgegner haben einen schweren Stand in dem Land, das billigen Strom gerne und üppig verbraucht. Die finnischen Haushalte zahlen mit 8,6 C/kWh für den Strom fast nur halb soviel wie die deutschen Haushalte. Und die Industrie bekommt den Strom dort für den halben Preis, den Haushalte zahlen. Der Industriestrompreis liegt mit gut vier Cent jedoch gleichauf mit den Strompreisen der deutschen Industrie.

Im Finnland sind trotz dünner Besiedlung gut 50% der Gebäude an die Fernwärme angeschlossen. Finnland belegt diesbezüglich einen Spitzenplatz in Europa. Dennoch werden derzeit die neuen Einfamilienhäuser zu mehr als 50% mit Strom beheizt. Die Autos werden morgens für zwei Stunden mit Strom vorgewärmt.

Bezogen auf das Bruttosozialprodukt liegt der Stromverbrauch Finnlands um das Doppelte über dem EU-Durchschnitt und sogar über den USA, nur noch übertroffen von Polen und Tschechien. Der wirtschaftliche Erfolg des Landes und die geringen Strompreise ließen den Stromverbrauch im Jahr 2001 um unglaubliche neun Prozent wachsen, witterungsbereinigt um fünf Prozent. Dieses überaus rasche Wachstum lässt die Erzeugungskapazitäten schnell an ihre Grenzen stoßen. Derartiger Strom-und Energiehunger ruft nach höheren Importen und Ausbau der Erzeugungskapazitäten. Wasserkraft kann anders als in den Nachbarstaaten nur einen begrenzten Teil beitragen. Die Windkraftnutzung steckt noch in den Anfängen.

Atomkraft oder Effizienz?

Eine Studie im Auftrag des Industrieministeriums hat zwei Möglichkeiten künftiger Verbrauchsdeckung ausgemacht: Den Zubau von Gaskraftwerken oder den Bau eines fünften Atomkraftwerks. Die finnischen Umweltorganisationen Greenpeace, WWF und die Finish Association for Nature Conservation haben einen "dritten Weg" aufgezeigt und diese Studie der Öffentlichkeit vorgestellt.

794 Finnische Landschaft / Foto: A. Peters

Finnische Landschaft: 75 % Finnlands sind von Wald bedeckt. Trotz dünner Besiedlung sind die Stromverteilkosten deutlich geringer als in Deutschland

Auf der Basis der regierungsamtlichen Studien kann laut dieser Studie die Energieeffizienz noch deutlich erhöht und der Einsatz von Holz, Biogas und Wind gegenüber den Regierungsszenarien verdoppelt werden. Das wäre mit staatlicher Hilfe nicht nur zu heutigen Preisen möglich, sondern hätte darüber hinaus sehr positive Beschäftigungseffekte.

Wegen der geringeren Importabhängigkeit und den niedrigeren Kosten setzen die Stromhersteller und die Industrie des Landes auf ein neues Kernkraftwerk und stellen dies als unausweichlich dar. Man möchte an einem der beiden vorhandenen Kernkraftwerksstandorte ein fünftes Kraftwerk mit 1.000 bis 1.600 MW neu bauen. Den Strom möchte man dann auch an die skandinavischen Nachbarländer Schweden und Norwegen verkaufen, die zwar über reichlich Wasserkraft verfügen, im Winter aber einen Erzeugungsengpass haben.
Für diesen Neubau glaubt man mit 1,7 bis 2,5 Mrd. Euro Investitionskosten auszukommen. Üblicherweise rechnet man in Westeuropa mit deutlich höheren Investitionskosten.

794 AvestoPolarit Stahlwerk Torneo / Foto: A. Peters

AvestoPolarit Stahlwerk Torneo, Südlapland. Das Werk verbraucht so viel Strom wie die Hauptstadt Helsinki

Die finnische Regierung hat einem entsprechenden Antrag bereits zugestimmt, ungeachtet der grünen Regierungsbeteiligung. Am 24. Mai gab es dazu eine Abstimmung im finnischen Parlament. Die von der Industrie gestützten Atombefürworter erhielten eine knappe Mehrheit.

Die Atomkraftbefürworter halten das neue Atomkraftwerk für unabdingbar. Solange man den Stromverbrauchszuwachs für unvermeidlich oder gar für notwendig hält und die Einsparpotenziale nicht ausreizt, trifft dies sicherlich auch zu. Das Beispiel Dänemark zeigt, dass es auch ohne Atomkraft geht. Dort sind die Strompreise zwar zweieinhalb mal höher als in Finnland. Der auf das Bruttosozialprodukt bezogene Stromverbrauch beträgt jedoch nur ein Drittel des finnischen Werts.

794 Tabelle Erzeugung, Strom Finnland, Kraft-Wärme-Kopplung

Eine Studie der Umweltverbände zeigt deutlich, wie die Entscheidung für oder gegen die Kernenergie den Zubau der Kraft-Wärme-Kopplung entweder bremst wie zu Beginn des Atomkraftwerksbau zu Beginn der achtziger Jahre oder beschleunigt wie die Entscheidung im Parlament gegen die Atomenergie im Jahr 1993.
Energieeffizienz ist also das Ergebnis einer politischen Entscheidung für oder gegen die Atomenergie. Die Entscheidung zwischen einem bequemen und einem zukunftssicheren Weg hat das finnische Parlament nun getroffen.

Becken
ED 02/2002 Finnlands neuer Atomreaktor umstritten S. 30-31
ED 02/2002 Das Jahrzehnt der Entscheidung S.28

Der Innenraum des Reaktors 1 in Atomkraftwerk Olkiluoto: Sind die Kostenschätzungen realistisch? Die offizielle Sicherheitsstudie rechnet mit zwei Großunfällen in 100.000 Jahren.

letzte Änderung: 12.08.2017