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Regelenergie-Poker gefährdet Netzstabilität

Im Juni kam es an drei Tagen erneut zu bedrohlichen Zuständen im europäischen Stromnetz. Über Stunden wuchs das Ungleichgewicht auf bis zu 6.000 Megawatt. Die Ursache ist allem Anschein nach in Deutschland zu suchen. Die Zeche für die Spekulationsexzesse an der Strombörse zahlen die Stromkunden.
Von Louis-F. Stahl

(28. Oktober 2019) Am 6., 12. und 25. Juni 2019 fehlten mehrere tausend Megawatt Regelleistung, um das europäische Stromnetz stabil im Gleichgewicht zu halten. Das an der Strombörse gehandelte Stromvolumen stimmte bei weitem nicht mit dem tatsächlichen Verbrauch und der tatsächlichen Stromerzeugung überein. Die vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber zogen nach dem Ausschöpfen der bereitgehaltenen Regelleistung alle Register: Zwangsweise Abschaltung von Großverbrauchern, kurzfristige Deals mit Großverbrauchern und Kraftwerksbetreibern sowie die Beschaffung von zusätzlicher Leistung am Spotmarkt der Strombörse um jeden Preis und die Anforderung von Unterstützung aus den Nachbarländern. Über die vorgesehene Regelleistungsmenge von 3.000 MW hinaus wurden mit diesen Notfallmaßnahmen nochmals bis zu 3.000 MW mobilisiert. Zeitgleich legten die Strompreise an der Börse eine Achterbahnfahrt hin: Am 6. Juni war der Strompreis bis zum späten Nachmittag durchgehend negativ. Der Verbrauch von Strom wurde mit bis zu 10 Cent/kWh belohnt. Am 12. und 25. Juni folgte das andere Extrem mit Strompreisen von bis zu 57 Cent/kWh. Zum Vergleich: Normalerweise beträgt der Börsenstrompreis rund 3 bis 9 Cent/kWh.

1096 Mensch mit mehreren Monitoren / Foto: biker3 / stock.adobe.com

Regelenergiemarkt

Die Extrempreise an der Strombörse sind jedoch nur ein Symptom. Die Ursache des Problems ist im Regelenergiemarkt zu suchen. Hier schließen die Übertragungsnetzbetreiber mit den Anbietern von Regelleistung in Auktionsverfahren Verträge zur Vorhaltung der Regelleistung zu einem sogenannten Leistungspreis, der über die Netzentgelte von den Stromkunden getragen wird. Wird die Regelleistung tatsächlich in Anspruch genommen, ist zusätzlich ein Arbeitspreis zu zahlen. Diese beanspruchte Regelarbeit müssen diejenigen Stromhändler bezahlen, die ihre Bilanzkreise aufgrund von Prognosefehlern nicht durch Geschäfte an der Börse im Gleichgewicht gehalten haben.

Wenn sich jedoch abzeichnet, dass der Arbeitspreis für die Regelenergie niedriger sein dürfte als der Börsenstrompreis, animiert dies Stromhändler dazu, ihren Strombedarf nicht planmäßig an der Börse zu decken, sondern einen Prognosefehler vorzutäuschen und so die als Stabilitätsreserve vorgehaltene Regelenergie zu beziehen. Ein Phänomen, dass nicht neu ist. So berichtete die Energiedepesche bereits in Heft 2/2019 (S. 12-14) über ähnliche Vorfälle im Dezember 2018 sowie kritische Netzzustände im Januar und April 2019.

Spekulation fördert Spekulation

Um das Risiko eines Blackouts als Folge der Spekulationen deutscher Stromhändler kurzfristig zu entschärfen, haben die Übertragungsnetzbetreiber die Ausschreibungsmenge für Regelleistung erhöht. Dies rief einen neuen Zockertrick auf den Plan: Die Angebotspreise im Rahmen der Auktionen von Regelenergie stiegen exorbitant. Am 29. Juni betrug der Preis von 8 bis 12 Uhr vertretbare 15,2 Cent/kW. Von 12 bis 16 Uhr dieses Tages wurde trotz ausreichender Angebotsmenge der Gebotspreis für Regelenergie durch die Anbieter so weit angehoben, dass Regelenergie bis zu einem völlig überhöhten Preis von 3.785,6 Cent/kW – also beinahe 40 Euro je Kilowatt – bezuschlagt werden musste, um den Bedarf zu decken. Das Fatale: Diesen exorbitanten Leistungspreis zahlen die Stromkunden über die Netzentgelte und sorgen damit für die niedrigen Arbeitspreise der Regelenergie, den sich wiederum die vorsätzlich verzockenden Stromhändler zu Nutze machen und damit den Regelenergiebedarf noch weiter in die Höhe treiben: ein Teufelskreis.

Mischpreissystem gekippt

Als Ursache der Misere sehen viele Marktteilnehmer das Ende letzten Jahres eingeführte Mischpreisverfahren für Regelenergie der Bundesnetzagentur. Eben dieses Preisermittlungsverfahren wurde aus anderen Gründen am 22. Juli 2019 vom Oberlandesgericht Düsseldorf gekippt (Az. VI-3 Kart 806/18). Die Bundesnetzagentur hat angekündigt, das Urteil zu akzeptieren, auf Rechtsmittel zu verzichten und das Mischpreissystem mit sofortiger Wirkung abzuschaffen. Die Rückkehr zum alten Leistungspreissystem ist allerdings keine endgültige Lösung: Dieses System wurde durch das Mischpreissystem nur abgelöst, weil Spekulanten zuvor bereits das Leistungspreissystem auf Kosten der Stromverbraucher aushebelten. Zur langfristigen Lösung des Problems entwickelt die Bundesnetzagentur derzeit ein neues Regelarbeitsmarktsystem.

letzte Änderung: 04.03.2021