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Die Wendebereiter

Man muss die Bürger bei der Energiewende mitnehmen, sagen Politiker oft. Dabei sind es die Bürger, die für den Wandel die Basis legen: Gespräche mit Menschen, die das Land nachhaltiger machen – und so die Demokratie stärken.
Von Daniela Schröder

(30. Oktober 2025) Kein Drama, kein Streit, keine spektakuläre Vision – manchmal vollzieht sich der Wandel im Stillen. So wie in Mettingen, 11.700 Einwohner, eine Gemeinde am Teutoburger Wald zwischen Münster und Osnabrück. Nördlich des Ortes drehen sich drei Windräder, eher von der kleinen, unspektakulären Sorte. Sie gehören zu einem lokalen Energieprojekt. Seit fast zwei Jahrzehnten erzeugen und verkaufen Mettinger Bürger damit Strom. »Butterbrotanlagen«, nennt Klaus Oschilewski die Windräder. »Laufen zuverlässig wie ein VW Käfer.«

»Wir wollten möglichst viele ins Boot holen«
Klaus Oschilewski, Bürgerwind Mettingen

Nur einen halben Kilometer ist es von seinem Haus zum Mini-Windpark. 2012 wollten Investoren die Fläche von lokalen Landwirten kaufen. Die ließen sich beraten, dann gründeten sie eine Gesellschaft, um selbst einen Windpark zu bauen. Den Nachbarn boten sie an, in das Projekt einzusteigen. Oschilewski fuhr zu bestehenden Windparks in der Region, klingelte bei Anwohnern, fragte: »Wie kommen Sie mit den Dingern klar?« Eine der Antworten: »Wenn ich Sie wäre, würde ich mitmachen. Sonst  man die Anlagen jeden Tag – und ärgert sich jeden Tag, dass man einem fremden Investor das Feld überlassen hat.«

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Wir sind hier, wir sind laut! Energiegenossen aus Heidelberg werben um Mitstreiter.

Heute ist Oschilewski einer von 90 privaten Miteigentümern der Bürgerwind Mettingen GmbH & Co. KG. Jährlich 12,7 Millionen Kilowattstunden Strom liefert der Park, genug für 3600 Haushalte, je nach Wetterlage sind es mal mehr, mal weniger. Das Gesamtinvestment betrug 8,15 Millionen Euro, davon kamen 1,63 Millionen von Bürgern. Zehn Prozent am Park hält die Gemeinde, den Rest finanzierten lokale Banken.

Das Besondere des Mettinger Modells: Kleinanleger kamen zuerst zum Zug. Das Mindestinvestment betrug 1000 Euro, die Obergrenze lag bei zehn Prozent des Bürgeranteils. Wer dabei ist, hat Stimmrecht, Kontrollrechte, Gewinnbeteiligung – der Bürger als Gemeinschaftsunternehmen. »Wir wollten möglichst viele ins Boot holen«, sagt Oschilewski, »damit jeder die Chance hat, die Energiewende vor Ort mitzuentscheiden und mitzugestalten.«

3,2 Milliarden Euro haben Genossenschaftler in die deutsche Energiewende investiert
Quelle: DGRV

Während Politiker Pläne für Gaskraftwerke vorantreiben, das Aus für fossile Treibstoffe infrage stellen, Importdeals für hoch subventionierte Flüssiggasterminals an der Küste schließen und Gasbohrungen im Wattenmeer genehmigen, ist die Energiewende in vielen deutschen Kommunen längst Realität. Die privaten Haushalte machen in Deutschland gut ein Viertel des Strom- und knapp 30 Prozent des Gesamtenergieverbrauchs aus. »Wir müssen die Bürger mitnehmen«, proklamieren Politiker gern, wenn es um den Umstieg auf Erneuerbare geht. Dabei ist es genau andersherum: Den Umstieg auf nachhaltige Energie treiben seit Jahrzehnten die Bürger an. Als Erzeuger und Verbraucher, als Planer und Entwickler, als Verkäufer und Investoren.

Bürgerenergie hat viele Varianten: Landwirte, Rechtsformen wie Vereine, Gesellschaften bürgerlichen Rechts, GmbH & Co. KG, Genossenschaften. Mal sind auch Kommunen, Stadtwerke oder regionale Versorger mit an Bord. Nie dabei: große Konzerne. Experten schätzen die Zahl der Bürgerenergiegemeinschaften in Deutschland auf 2500 bis 3000. Gut ein Drittel davon sind lokale Energiegenossenschaften, sie haben aktuell 220.000 Mitglieder. Rund 3,2 Milliarden Euro investierten Genossenschaftler bisher in die Energiewende vor Ort. Im Durchschnitt sind das 3200 Euro pro Anleger.

Am stärksten verbreitet sind die Energiegenossenschaften und -gesellschaften in Bayern, Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Solarprojekte machen den größten Anteil aus, gefolgt von Biomasse für Wärme, an dritter Stelle stehen Windparks.

12,5 Prozent der installierten Windenergieleistung in Deutschland stammt aus Bürgerhand, bei Photovoltaik liegt der Anteil nur etwas über ein Prozent. Allerdings kommen 43 Prozent des PV-Stroms von den Dächern und Balkonen privater Haushalte. 2024 produzierten die Genossenschaften acht Terawattstunden Strom aus Sonne und Wind, drei Prozent der Stromerzeugung aus Erneuerbaren.

Es geht um Zusammenhalt und Selbstwirksamkeit: Bürgerenergie stärkt die Gesellschaft

Alles in allem überschaubare Zahlen. Doch das sei nicht das Entscheidende, sagt Katharina Habersbrunner, Vorständin des Bündnis Bürgerenergie, einer Lobbyorganisation zum Fördern und Vernetzen der Akteure. »Nicht nur Strom konsumieren und bezahlen. Sondern sich einbringen, mitreden, mitentscheiden. Es geht um das Mitgestalten von Wirtschaftsprozessen.« Andreas Wieg vom Deutschen Genossenschafts- und Raiffeisenverband sagt: »Genossenschaften stärken die Gesellschaft. Menschen arbeiten aktiv an ihrem Lebensumfeld, erleben Selbstwirksamkeit. Neues entsteht, der Zusammenhalt wächst.«

Die Philosophin Hannah Arendt schrieb, »dass keiner glücklich genannt werden kann, der nicht an öffentlichen Angelegenheiten teilnimmt, dass niemand frei ist, der nicht aus Erfahrung weiß, was öffentliche Freiheit ist, und dass niemand frei oder glücklich ist, der keine Macht hat, nämlich keinen Anteil an öffentlicher Macht.«

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Dieses demokratische Element erkennen auch Wissenschaftler. »Das Besondere an der Bürgerenergie ist das Übernehmen von Verantwortung für einen zentralen Punkt wie der Energieversorgung«, sagt Humangeographin Stefanie Baasch von der Uni Bremen. Petitionen zu unterschreiben oder Kampagnen zu unterstützen sei das eine. »Doch hier geht es darum, Anlagen zu bauen, Strom zu erzeugen, relevante Infrastruktur zu schaffen.« Und dabei auch etwas zu schaffen, das für eine Gesellschaft elementar ist, aber seltener wird: »Diskussionsräume über unterschiedliche Perspektiven. Auf Energie und Energieplanung, zur Zukunft eines Ortes und einer Region.«

Wandel von unten. Gemeinsam eine bessere Zukunft entwerfen und sie gestalten. Das ist der Anspruch, aus dem die Bürgerenergie einst entstand. Als aus der Anti-Atomkraft-Bewegung der Siebzigerjahre die Basis der Energiewende wuchs, setzten sich bereits erste Bürger ein kleines Windrad auf ihr Grundstück.

Eines stand in Mettingen, installiert von Dietrich Koch. Damals gab es keine passende Kategorie für eine Genehmigung, Koch erzählte den Behörden er brauche den Strom für den Bau eines Atombunkers. Die Beamten gaben grünes Licht. In den Neunzigern entstanden Solarprojekte in Bürgerregie, prominentestes Beispiel ist Schönau im Schwarzwald, wo Landarzt Michael Sladek und Lehrerin Ursula Sladek den Verein »Eltern für atomfreie Zukunft« gründeten, auf dem Dach der Kirche eine PV-Anlage installierten und das lokale Stromnetz kauften.

Im Jahr 2000 tritt das EEG in Kraft – und verleiht der Bürgerenergie mächtig Schub

Es war die Zeit, in der Solarpioniere für eine kostendeckende Vergütung von PV-Strom mobilisierten. Mehr als 200 Kommunen übernahmen die Idee und bereiteten damit den Boden für das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) im Jahr 2000. Mit festen Einspeisevergütungen und Marktprämien ermöglichte es auch kleinen Akteure den Markteinstieg. Zig Bürgerwindparks und -solarprojekte gründeten sich.

Doch schon nach wenigen Jahren verlor die Bürgerenergie ihren Schwung. Die Regierungen unter Angela Merkel verschärften die Bürokratie, für eine Förderzusage gab es nun Ausschreibungen. Im Preiswettbewerb mit kommerziellen Anbietern konnten Bürgerprojekte selten mithalten.

Mit der Ampelkoalition kam wieder Aufwind, seit 2023 sind Wind- und Solarprojekte von Genossenschaften bis zu einer bestimmten Größe von Ausschreibungen befreit, dazu gibt es Zuschüsse für Planung und Genehmigung.

Doch noch immer lähmen Vorschriften und fehlende finanzielle Spielräume das Engagement der Bürger. Dabei ist Bürgerenergie längst Teil der EU-Energiestrategie, die Mitgliedsstaaten müssen den Zugang zu Netzen, Märkten und gemeinschaftlicher Eigenversorgung ohne Hürden und Hindernisse ermöglichen.

Energy Sharing heißt das Konzept, ein gemeinschaftliches Erzeugen und Nutzen von Strom über das öffentliche Netz ohne klassischen Versorger dazwischen. In einigen Ländern funktioniert es bereits (siehe Kasten „Nächste Stufe der Bürgerenergie“). Das Potenzial des Energy Sharings ist beachtlich: Nach Berechnungen des Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) könnten bis zu 90 Prozent der Haushalte von günstigeren Strompreisen profitieren. Dazu kommt: Lokal erzeugten Strom lokal verbrauchen, das entlastet die Stromnetze und spart sogar den Bau neuer Leitungen. Doch bisher wurde weder das EU-Recht umgesetzt, noch wurden die technischen Voraussetzungen geschaffen. Erst 2032 sollen alle analogen Stromzähler durch Smart Meter ersetzt sein. Doch ob das gelingt, erscheint fraglich.

Bürgerenergie bedroht etablierte Geschäftsmodelle. Das provoziert Widerstand

Bürgerenergie-Vertreter vermuten, dass die Politik das Lokal-für-Lokal-Konzept auch aus anderen Gründen nicht fördert. »Zugunsten der zentralen Strukturen wird die Bürgerenergie von Teilen der Politik in ihrer Entwicklung behindert und marginalisiert«, sagt Bündnis-Chefin Habersbrunner. »Der Lobby-Druck der Großen ist stark, und die Angst vor einem dezentralen Energiesystem ist groß. Die Abwehrhaltung der großen Player zeigt: Es geht nicht um das Energiesystem der Zukunft, sondern um das Verteidigen alter und fossiler Geschäftsmodelle.«

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»Wir wollen mit den großen Hunden pinkeln gehen»: Dirk Ketelsen leitet Deutschlands größten Bürgerwindpark.

Dabei bietet Bürgerenergie zwei Mehrwerte, die kein großer Energiekonzern bieten kann: Akzeptanz und lokale Wertschöpfung.
Reussenköge, eine Gemeinde mit 324 Einwohnern an der Küste Nordfrieslands, eine der windigsten Ecken Deutschlands. 88 Anlagen gehören zum lokalen Bürgerwindpark, es ist der größte in Deutschland. In den Neunzigern ging es mit den ersten Windrädern los, später kamen fünf weitere kleine Parks dazu, dann verschmolzen die Einwohner alles zu einer Gesellschaft. »Bei jeder Ausbaustufe wurde jeder Bürger gefragt, ob er sich als Investor beteiligen will, pro Haushalt gab es nur einen Anteil«, erzählt Geschäftsführer Dirk Ketelsen. Die Besitzer der Flächen bekamen einen einheitlichen Pachtsatz. Die ganze Gemeinde mit ins Boot holen, alle gleichbehandeln, die demokratische Strategie verhinderte Neiddebatten. Heute sind 95 Prozent der Einwohner Gesellschafter, sagt Ketelsen. »Klagen gegen die Windräder, die gab es bei uns nie.«

Das Potsdamer Forschungsinstituts IASS fand heraus: Jeder vierte Windparkgegner lässt sich umstimmen, wenn die Gemeinde eine Entschädigung erhält. Sind die Anlagen im Besitz einer kommunalen Energiegenossenschaft, ist ein Drittel bereit, den Widerstand aufzugeben.

Gleiches gilt für Investitionen: Gehören die Windräder einem Energieversorger, können sich 27 Prozent vorstellen, ihr Geld im Windpark zu investieren. Ist der Park in Bürgerhand, wären 46 Prozent dabei. In Mettingen sind über 20 Jahre Ausschüttungen von 230 Prozent der Einlage kalkuliert. Solide, aber fern von Spekulation. »Klar, keiner will Minus machen, es ist kein Altruismus«, sagt Klaus Oschilewski. »Aber es gibt bei uns auch keine Aktionärsattitüde.«

Ohnehin profitiert nicht allein der Einzelne von der Bürgerenergie. Vor allem gewinnt die Gemeinschaft. Studien des IÖW ergaben: Bürgerenergie steigert regionale Kaufkraft, sichert Arbeitsplätze und erhöht durch Gewinne, Steuereinnahmen und Beteiligung der Bevölkerung die Akzeptanz der Energiewende. »Bei Bürgerprojekten bleiben bis zu 50 Prozent der Investitionen als lokale Wertschöpfung in der Region, bei anonymen Investoren sind es oft weniger als zehn«, heißt es beim Bündnis Bürgerenergie.

Neue Straßen, schnelles Internet: Von der Windkraft profitiert der gesamte Ort

Reußenköge hat durch den Windpark hohe Gewerbesteuereinnahmen, allein 2020 bescherte er der Gemeinde einen Überschuss von 4,5 Millionen Euro. In den vergangenen Jahren investierte sie in Breitbandinternet, baute eine ehemalige Schule als Gemeinschaftszentrum aus, Straßen wurden saniert, das Radwegenetz wurde erweitert, junge Familien bekamen pro Kind 200 Euro im Jahr. Bürgerenergie als regionale Wirtschaftskraft wirkt auch in Erbach in Südhessen, Sitz der Energiegenossenschaft Odenwald. Ihre Aufträge für Photovoltaikanlagen, eine Wasserkraft- und mehrere Windenergieprojekte gehen an heimische Handwerksbetriebe und Energieberater, allein zwischen 2009 und 2013 ein Auftragsvolumen von 6,5 Millionen Euro. Insgesamt investierte die Genossenschaft in dem Zeitraum 25 Millionen Euro in die Region. Auch die Kapitalgeber sind ein Faktor: Das Fremdkapital für Bürgerenergieprojekte kommt oft von regionalen Banken, die Zinserträge bleiben ebenfalls in der Region.

Damit eine Region profitiert, braucht es mehr als Idealismus. Projekte managen, Finanzen, Kommunikation – gerade in kleinen Bürgerparks engagieren sich Menschen oft neben ihrem eigentlichen Job. Doch sobald Windräder, Solarfelder und Wärmenetze in Betrieb gehen, braucht es auch Hauptamtliche. Um an Fachwissen zu gelangen, setzen viele Initiativen auf Kooperationen. Die Bürgerwerke etwa, ein Zusammenschluss von mehr als 100 Genossenschaften, bündeln Stromerzeugung und Vertrieb (siehe Kasten zum Interview mit Bürgerwerke-Chef Felix Schäfer).

Doch am Ende zählt auch hier: die Innovationskraft. Bürgerenergie bedeutet längst mehr als Strom vom Dach oder Wind vom Feld. Die Energiegenossenschaft Odenwald baut Kindergärten, kauft und saniert Gebäude, verwandelte eine alte Brauerei in ein Büro- und Veranstaltungshaus, über das Thema Energie ist die Genossenschaft längst hinausgewachsen. »Hier zeigt sich, welche Kraft und Kreativität im Ansatz der gemeinschaftlichen Energieerzeugung steckt«, sagt DGRV-Experte Wieg.

Das ist die Herausforderung: Um zukunftsfähig zu sein, brauchen Bürgergenossenschaften ein Selbstverständnis, das über die reine Energieproduktion hinausgeht. »Die Geschäftsmodelle werden deutlich komplexer«, sagt Wirtschaftswissenschaftler Lars Holstenkamp von der Leuphana Universität Lüneburg. Mit dem Auslaufen der hohen EEG-Vergütungen müssen die Bürgerprojekte ihre Einnahmen am Markt sichern, schwankende Preise und steigende Kosten machen das Geschäft riskanter.

Ob kleine Player das stemmen können, hängt viel von den Entscheidern in Berlin ab, doch ein Schub ist nicht in Sicht. »Die Politik muss endlich entscheiden, welche Rolle Energiegenossenschaften spielen sollen und was es dafür braucht, sonst bleibt Bürgerenergie immer ein Anhängsel«, sagt Ökonom Holstenkamp.

Die Genossenschaften wandeln sich. Es geht heute um mehr als Strom zu erzeugen

Energiegenossenschaften müssen neue Geschäftsmodelle entwickeln, sie brauchen den Rückhalt der Politik und den Blick über den Horizont hinaus. Sebastian Sladek, Vorstand der EWS Schönau, beschreibt den Kurs so: »Wir wollen ein Transformationsunternehmen sein, das sich auch mit anderen Themen rund um Zukunft und Nachhaltigkeit beschäftigt.«

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Mehr Netzwerk, mehr Kooperationen mit Gleichgesinnten. Aus der Energie, aber auch oder aus anderen Bereichen. Und nicht weniger wichtig: gesellschaftliche Vielfalt. Das klassische Mitglied der Bürgerenergie-Projekte ist über 50, männlich, weiß, gebildet. Das gilt auch bei der Heidelberger Energiegenossenschaft (HEG). Zwar ist der Vorstand gleichberechtigt aufgestellt, doch bei den Mitgliedern ist nur ein Drittel weiblich. »Diversität ist ein großes Thema für uns«, sagt HEG-Sprecherin Laura Zöckler. Einkommen, Geschlecht, Herkunft, Alter, »gesellschaftliche Vielfalt macht Genossenschaften stärker und zukunftsfähiger.«

Damit es klappt, setzt die HEG auf Kommunikation (siehe Kasten „Bürgerenergie in der Stadt“). Zöckler ist als Erneuerbaren-Botschafterin auf Instagram unterwegs. Für die Gen Z sind Windräder und Solaranlagen Normalität, sagt sie, »diesen Hebel muss die Bürgerenergie nutzen, um Nachwuchs zu gewinnen.«

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»Gesellschaftliche Vielfalt macht Genossenschaften stärker«, sagt Laura Zöckler. Frauen sind in der Bürgerenergie noch klar in der Minderheit.

Stromrebellen wurden die Gründer der EWS Schönau genannt – vielleicht braucht die Bürgerenergie gerade in schwierigen Zeiten wieder mehr Rebellentum? Windpionier Ketelsen an der Nordsee wäre jedenfalls bereit: »Der Staat kann nicht immer fördern und tragen, irgendwann muss man selbstständig leben können.« Ketelsen gründete früh eine Firma für Planung, Verwaltung und Betrieb des Bürgerwindparks, daraus wurde ein 80-Mitarbeiter-Unternehmen. Finanziell getrennt, inhaltlich eng verzahnt: »Das Wissen aus dem Bürgerpark brachte ich in die Firma ein, dann lief es umgekehrt.«

Eine Kombi mit Erfolg. Der Bürgerwindpark Reußenköge betreibt ein eigenes Netz, ein Umspannwerk und zwei Batteriegroßspeicher. Als Nächstes ist eine Wasserstoff- und Methanolproduktion geplant. Das Ziel: stromintensive Unternehmen wie Rechenzentren vor Ort ansiedeln. Energie erzeugen, veredeln, speichern, verbrauchen – das komplette Ökosystem.

»Wir wollen mit den großen Hunden pinkeln gehen«, sagt Ketelsen. Fakten schaffen, Systeme aufbauen, der Politik voraus sein. Und Werte schaffen. »Mit der Bürgerenergie tut man etwas für die kommende Generation und man bewegt etwas für die Region«, sagt Ketelsen. »Das bringt mir Zufriedenheit.«

Bürgerenergie in der Stadt

Jung, urban, digital-affin: Heidelbergs Energiegenossen

In Heidelberg entstand 2010 eine Energiegenossenschaft, die anders ist. Keine pensionierten Ingenieure, keine Anti-Atomkraft-Aktivisten. Sondern eine Gruppe Studenten, die sich fragten, warum es auf den Dächern der Stadt kaum Solarmodule gab. Auf ihrer Uni montierten sie die erste eigene Anlage, kurz darauf gründeten sie die Heidelberger Energiegenossenschaft (HEG). Heute betreibt die HEG 51 Solaranlagen, zählt mehr als 1500 Mitglieder, hat rund acht Millionen Euro Bürgerkapital in Erneuerbare investiert.

Schon ab 100 Euro können Menschen Anteile zeichnen – Klimaschutz als soziale Gerechtigkeit. Die Projekte sind städtisch gedacht: Mieterstrom für Mehrfamilienhäuser, Solaranlagen auf Schulen, Bürogebäuden, Wohnquartieren. Energie, die erzeugt wird, wo sie verbraucht wird.

Die HEG kombiniert die Werte des Genossenschaftsmodells – Stabilität, Gemeinwohl, Demokratie – mit einer jungen, digitalen Kultur. Zum Selbstverständnis gehört ein Programm mit Vorträgen, Konferenzen, Webinaren und Praxis-Aktionen, bei denen Bürger lernen, wie sich ein Steckersolarmodul am Balkongeländer montieren lässt.

Social Media spielt bei der HEG eine Schlüsselrolle, das Team beantwortet dort Fragen, diskutiert Kritik, legt Zahlen offen. Dazu gehört auch die Mission, ein Motor für Innovationen zu sein: Mit dem e+KUBATOR, einem nachhaltig sanierten Kasernengebäude, schuf die HEG einen Ort für junge Unternehmen aus den Bereichen Energie, Mobilität und Digitalisierung. Die Vision: ein Ideenlabor sein für die Energie- und Verkehrswende der Stadt.

Energy Sharing

Nächste Stufe der Bürgerenergie

Strom nicht nur gemeinsam erzeugen, sondern auch vor Ort teilen, verbrauchen, verkaufen: das ist die Idee des Energy Sharing. Bürger, Kommunen, sowie kleine und mittlere Unternehmen können sich zu Energiegemeinschaften zusammenschließen und erhalten im Energiemarkt dieselben Rechte wie große Versorger: fairer Netzzugang, keine überhöhten Abgaben, gleiche Chancen beim Verkauf.

2019 schuf die EU die Grundlage, 2021 sollten die Mitgliedsstaaten sie umsetzen. Viele hielten sich daran. Als Vorreiter gilt Österreich, mit klaren Regeln und mehr als 4000 Energiegemeinschaften, die Strom, Wärme oder Biogas erzeugen, speichern und teilen. Unterstützt durch reduzierte Netzentgelte, eine Koordinierungsstelle und digitale Stromhandelsplattformen.

In Italien ist das »Lokal-für-Lokal«-Modell seit 2020 erlaubt. Mitglieder am selben Umspannpunkt teilen Strom, zusätzlich zahlt der Staat eine Prämie. Die mehr als 100 Projekte laufen meist im ländlichen Raum. Spanien fördert Energiegemeinschaften mit lokalen und regionalen Programmen und strich eine Steuer, die das wirtschaftliche Nutzen von selbst erzeugtem Solarstrom erschwert hatte. Auch Frankreich pusht das Sharing-Konzept.

Anders in Deutschland. Nur erste Pilotprojekte zeigen, wie es funktionieren könnte: Im fränkischen Wunsiedel und im niedersächsischen Bakum entwickelten Stadtwerke, Genossenschaften und Tech-Firmen Modelle für flexiblen Verbrauch und digitale Abrechnung. Die Bürger waren begeistert. Aber noch fehlt die Rechtsbasis. Schwarz-Rot will zwar das Energiewirtschaftsgesetz ändern, ab Juni 2026 soll Energy Sharing möglich sein. Doch ob, und wie und wann Deutschlands Bürger gemeinschaftlich erzeugten Strom selbst und eigenbestimmt nutzen können, ist offen.

Bürgerwerke

»Wir wollen, dass alle von der Energiewende profitieren«

Bürgerwerke-Chef Felix Schäfer über die Rolle des Dachverbands der Energiegenossenschaften und die Aufgaben für die Zukunft.

Herr Schäfer, die Bürgerwerke nennen »Wirkung« als Unternehmensziel. Was heißt das?

Felix Schäfer: Wir messen alles, was wir tun, an der Wirkung für die Energiewende in Bürgerhand. Man kann sich darauf verlassen, dass wir fair kalkulieren und unsere Preise so transparent wie möglich erläutern. Wir streben nicht nach Gewinnmaximierung, sondern investieren und unterstützen unsere Mitgliedsgenossenschaften mit den Geldern, die wir einnehmen, sowohl direkt finanziell als auch indirekt, etwa durch die Arbeit unseres Teams in der Geschäftsstelle, Coaching und Netzwerkarbeit.

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Warum sollte ich den oft ehrenamtlich arbeitenden Mitbürgern als Energieerzeuger eher vertrauen als professionellen Versorgern?

Felix Schäfer: Weil sie oft seit Jahrzehnten in der bürgergetriebenen Energiewende unterwegs sind und nicht nur sehr viel Kompetenz, sondern auch große Motivation mitbringen, die beste Lösung vor Ort zu finden. Zusätzlich bündeln wir die zentralen Aufgaben für den Energievertrieb in der Dachgenossenschaft Bürgerwerke, und unsere mehr als 50 hauptamtlichen Mitarbeitenden bieten einen mindestens so professionellen und sicherlich persönlicheren Service als viele Große.

Bürgerenergie ist noch immer eine Nische. Warum?

Felix Schäfer: Viele wissen überhaupt nicht, dass sie sich an Energiegenossenschaften beteiligen können. Zudem ist es in den letzten 15 Jahren aufgrund der steigenden Anforderungen schwieriger geworden, Bürgerprojekte umzusetzen. Daher setzen wir uns dafür ein, dass die neue Regierung ihre Energiepolitik so gestaltet, dass alle mitmachen können.

Speicher, H2, Wärme, Agri-PV – Was sind für die Genossenschaften die Geschäftsmodelle der Zukunft?

Felix Schäfer: Speicher werden auf jeden Fall eine große Rolle spielen. Hier entwickeln wir gerade in unserem Netzwerk von mehr als 140 Energiegenossenschaften Lösungen für Gewerbebetriebe und Großspeicher an Solarparks. Im Rahmen unserer PV-Solarparkentwicklung in Kooperation mit unseren lokalen Genossenschaften suchen wir mit Kommunen und Landwirten nach den besten Lösungen – mit und ohne Agri-PV. Wärme ist ebenfalls ein Zukunftsfeld. Es gibt schon mehrere Erfolgsbeispiele in unserem Mitgliederkreis bei Nahwärmenetzen.

Die Mitgliedsstruktur der Bürger-EG ist homogen: älter, männlich, Gutverdiener. Wie können die EG neue Zielgruppen erschließen?

Felix Schäfer: Wir arbeiten zum Beispiel mit dem Verein »Netzwerk Energiewende Jetzt« zusammen und fördern Programme, um mehr Frauen für das Thema anzusprechen. Außerdem sorgen wir mit Digitalisierung und etwa vergünstigten Mitgliedertarifen dafür, dass die Angebote für neue Zielgruppen zugänglicher und attraktiver werden. Wir wollen, dass alle an der Energiewende teilhaben und von ihr profitieren.

letzte Änderung: 25.11.2009