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"Blankes Entsetzen" nach dem Vortrag des Atomexperten Entlassener Kraftwerkschef hatte mit Sicherheitskurs der EnBWabgerechnet - Ministerium verschweigt Anlass der Trennung

"Blankes Entsetzen" nach dem Vortrag des Atomexperten

(02. Dezember 2004) Entlassener Kraftwerkschef hatte mit Sicherheitskurs der EnBW abgerechnet - Ministerium verschweigt Anlass der Trennung

Warum wurde der Atomexperte Eberhard Grauf als Reaktorchef in Neckarwestheim gefeuert? Bis heute wird darüber gerätselt. Mit Fragen der Sicherheit, hieß es stets, habe der Fall nichts zu tun. Interne Dokumente belegen: Genau darum ging es im vorausgegangenen Streit.

Von Andreas Müller, Stuttgarter Zeitung

Der Umweltminister lobte sich selbst. Bei der Atomaufsicht, berichtete Stefan Mappus (CDU) unlängst in einem Festvortrag, habe er in wenigen Monaten "einige neue Akzente gesetzt". Besonders wichtig sei ihm, dass die Aufsichtsbehörde - also sein Haus - "transparent arbeitet" und eine "aktive Öffentlichkeitsarbeit" betreibe. Man habe es schließlich mit kritischen Medien zu tun.

Nun aber gerät Mappus in einen bösen Verdacht. Hat sein Ministerium, entgegen den schönen Worten, statt Information Desinformation betrieben? Diesen Eindruck erweckt ein Vorgang im Gemeinschaftskernkraftwerk Neckarwestheim (GKN), der plötzlich in einem völlig anderen Licht erscheint als bisher offiziell dargestellt.

Die Vorgeschichte ist bekannt: Ende Juni war der Vorstandschef der Energie Baden-Württemberg (EnBW), Utz Claassen, zu Besuch in Neckarwestheim. Neben einer Betriebsversammlung gab es auch eine Diskussion mit Führungskräften. Zwei Tage später wurde der Leiter des zweiten Reaktorblocks, Eberhard Grauf, Knall auf Fall abgelöst. Der Rauswurf verursachte bundesweit Aufsehen und Rätselraten: Was wurde dem international renommierten Atomexperten, der auch in der Reaktorsicherheitskommission des Bundes sitzt, zur Last gelegt?

Erst sagten das Ministerium und der Stromkonzern gar nichts. Dann, als Grauf gegen die Entlassung klagte, nannte die EnBW Gründe: Es habe ein "gravierendes Zerwürfnis" mit dem GKN-Management gegeben, der Reaktorchef sei ein "querulatorischer" Typ, seine "verbalen Ausfälle" gegen Vorgesetzte könne man nicht dulden. Die Arbeitsrichterin hielt die Begründung für reichlich dünn, doch sie konnte die Vorgänge nicht mehr klären: Grauf und die EnBW einigten sich außergerichtlich.

Wesentlich eingehender befasste sich das Ministerium mit dem Fall. Erst forderte es "detaillierte Auskunft" von der EnBW. Die Antwort laut Pressemitteilung: über die Reaktorsicherheit habe es "zu keiner Zeit unterschiedliche Auffassungen gegeben". Dann vernahm die Atomaufsicht Grauf selbst und weitere Teilnehmer der Besprechung. Das offizielle Ergebnis: es gebe "keinerlei Anhaltspunkte" dafür, dass ein Streit über Sicherheitsfragen zur Trennung führte. Anfang November musste die Befragung auf Wunsch des Bundesumweltministeriums wiederholt werden. Der Befund blieb der gleiche: "Fragen des sicheren Betriebs", wurde den Medien mitgeteilt, hätten bei dem Rauswurf keine Rolle gespielt. Damit sollte der leidige Fall endgültig zu den Akten gelegt werden.

Dumm nur, dass er dort nicht blieb. Die Protokolle der Befragung, die an mehrere Ministerien gingen, liegen inzwischen auch der Stuttgarter Zeitung vor. Sie zeichnen ein völlig anderes Bild der Vorgänge: Entgegen allen Dementis ging es bei Graufs Vortrag vor Claassen und der Managerrunde in erster Linie um Fragen der Reaktorsicherheit. Und da äußerte sich der langjährige Kraftwerkschef äußerst kritisch über den Kurs des Stromkonzerns.

Thema seiner Ausführungen waren die Konsequenzen aus den schweren Sicherheitsverstößen 2001 im Kernkraftwerk Philippsburg. Dort war ein Reaktor nach der Revision wieder angefahren worden, obwohl das Notkühlsystem nicht ordnungsgemäß zur Verfügung stand - ein "Blindflug" mit Folgen. Bei der EnBW mussten zwei Vorstände gehen, der damalige Umweltminister Ulrich Müller geriet an den Rand des Rücktritts, wochenlang stand der Atommeiler still. Erst als der damalige Konzernchef Gerhard Goll ein neues Sicherheitsmanagement versprach, durfte der Betrieb weitergehen.

Aus dem Debakel, musste Golls Nachfolger Claassen nun von Grauf hören, habe man nichts gelernt. Das zeige ein Vorfall vom Frühjahr 2004, als in Philippsburg leicht radioaktives Wasser ausgetreten war. Wieder hätten mehrere Barrieren nicht gegriffen, wieder seien - angeblich beseitigte - Organisationsdefizite die Ursache gewesen. Wenn Claassen den Vorfall mit dem Hinweis relativiere, das Wasser wäre sogar trinkbar gewesen, verkenne er die Tragweite. Mühsam aufgebautes Vertrauen werde auf diese Weise wieder zerstört - nach dem Motto: "Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück". Der Chef von Philippsburg, Hans-Josef Zimmer, wies die Vorwürfe entrüstet zurück. "Es musste der Eindruck entstehen, als sei Dr. Zimmer unfähig", berichtete ein Zeuge.

Aber auch mit dem neuen Sicherheitsmanagement ging Grauf hart ins Gericht. Die verschärfte Aufsicht habe dazu geführt, dass die Ingenieure vorrangig "paperwork" - Papierarbeit - verrichteten. Dafür fehlten sie im operativen Geschäft, wo man sie eigentlich dringender benötige. Unterm Strich werde die Situation "eher schlechter als besser". Was die EnBW auf Druck der Politik eingeführt habe, fuhr Grauf fort, seien "Alibi- und Beruhigungsinstrumentarien". Damit wecke man Erwartungen, die zu "immer größeren Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit" führten. "Im Anschluss an diese Darlegungen herrschte blankes Entsetzen", gab der kaufmännische GKN-Geschäftsführer Wolfgang Heni zu Protokoll.

Doch Grauf war noch nicht am Ende. Erst äußerte er sich zum Problem von "Innentätern", also Saboteuren in den eigenen Reihen: Allein mit einem Schraubenzieher könne ein Schichtleiter einiges Unheil anrichten. Kollegen hätten widersprochen, hieß es später, aber "Professor Claassen war hiervon völlig verschreckt". Dann schilderte er die Stimmungslage in der Belegschaft: Auf allen Ebenen herrsche Frust wegen unzumutbarer Arbeitsbelastungen. Der "Götz-von-Berlichingen-Standpunkt" habe inzwischen "in einem für den sicheren Betrieb eines Kernkraftwerks bedenklichen Maß um sich gegriffen".

Die Runde war konsterniert. Eine solche Generalabrechnung, noch dazu in Anwesenheit des Konzernchefs, hatte niemand erwartet. Claassen verabschiedete sich mit dem süffisanten Hinweis, die Neckarwestheimer müssten "in Managementfragen noch etwas nachlegen". Dann entschieden die Zurückgebliebenen, nun führe an einer Trennung von Grauf aber nichts mehr vorbei. Seine Kritik sei "destruktiv" und grob illoyal.

Egal, wie berechtigt die Bedenken des Atomexperten waren - wie konnte das Ministerium in Kenntnis dieser Vorgänge monatelang behaupten, sein Rauswurf habe mit dem Thema Sicherheit nichts zu tun gehabt? Mit den wider Erwarten publik gewordenen Fakten konfrontiert, reagierte Mappus recht einsilbig: Man bleibe bei der bisherigen Darstellung, ließ er seinen Sprecher ausrichten. "Richtig ist aber auch", räumte er erstmals ein, "dass Dr. Grauf in dem Gespräch am 30. Juni in GKN Sicherheitsfragen kritisch angesprochen hat. Dies hat aber nicht zur Kündigung geführt." So bekräftigt es auch die EnBW: Die bisher genannten Gründe gälten unverändert. Und das Bundesumweltministerium äußert sich nur sibyllinisch: "Die Befragung war aufschlussreich."

letzte Änderung: 08.05.2017